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S. 118
Mietau
heute Jelgava, Lettland [56° 39′ N, 23° 43′ O] (40 km südwestlich von Riga)
Mietau bey HE.
D.
Lindner. den
1 Jul. 1755.
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Lieber Bruder und ewig werther Freund,
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Laß uns zum Abmarsch blasen. Wir haben lange genung gestritten. Unsere
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Arme sind entkräftet unsre Waffen abgenützt. Weder der Sold noch die Ehre
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hat unsern Muth so lange erhalten. Der Himmel laße uns geübter v erfahrner
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dieses Feld verlaßen v gebe uns zu unsern künfftigen Ausfällen mehr Glück
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v Geschick.
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Ich kündige Dir meine Abreise oder Flucht oder Rückzug, wie Du es nennen
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willst, ziemlich martialisch an. Schade daß im Lande der Cosacken v.
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Hottentotten keine Lorbeeren wachsen. Gesetzt Sie wären, Cäsar selbst würde seine
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kahle Scheitel zu Gute für selbige halten.
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Freue Dich, mein lieber Bruder, wir sind von uns.
Commission
loß. Man
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einen
neuen Hofmeister
hat schon einen, man will nicht daran, vielleicht würde ein verschriebener beßer
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seyn. Vielleicht ist man klug, vielleicht ist man höflich, wenn man so redt.
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Ich danke Gott. Wenn er mein Leben erhalten will, so wird er auch selbiges
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Ihm v. meinen Nächsten zum Besten anzuwenden wißen andere Wege weisen
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oder die Steine des Anstoßes aus dem Wege räumen, mein Herz oder meine
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Umstände ändern. Wird jenes gebeßert; diese mögen so arg so tumm seyn
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als sie wollen. Ich habe genung gewonnen; alle meine Wünsche sollen
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alsdann erfüllt
werden
seyn. Denke ich unrecht oder handele ich anders als ich
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denke. Wer hilft mir zu dieser Selbsterkenntnis. Ich schreibe in der grösten
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Unordnung. Die Kutsche soll gleich kommen mich abzuholen; v muß also
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abbrechen. Komme ich noch nach der Stadt; so geht dieser Brief ab; wo nicht
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mit der ersten Post.
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Montags oder den 7 Jul. 755.
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Nun Gott Lob! meine Feßeln sind jetzt glücklich gebrochen. Den 1. war
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Examen
ganz unvermuthet v wir giengen nach Grünhof ab. Den 2 gieng ich
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nach Mietau mit meinen Sachen zurück. Letztere werden schon in Riga seyn;
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ich gehe heute in Gesellschaft des HE.
Lieut.
von
Fölckersamb
des Abends v
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denke morgen früh an Ort v. Stelle zu
seyn
kommen.
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Mein Nachfolger ist ein Rostocker v heist Attelmeyer; ein 30jähriger, 13 in
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Kurland Hofmeister, er kennt die hiesige Luft v ist kein Lehrling in seinem
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Handwerke. Ich habe mich mit ihm nicht näher einlaßen wollen daß ich mehr
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von ihm urtheilen könnte.
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Der Erinnerung meines lieben Vaters zu folge habe meinen Abschied so
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gelind als mögl. zu machen gesucht. In Betrachtung seiner bin in einigen
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Dingen leichter gewesen, als es meine Grundsätze v. Gemüthsart erlauben.
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Die jungen HE. musten mich biß ins nächste Wäldchen begleiten v der älteste
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war ziemlich wieder mein Vermuthen wehmüthig, der jüngste zärtlicher. Der
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HE. General umarmte mich noch – – – –. Ich kann Dir nicht alles schreiben,
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weil es lauter Kleinigkeiten betrift, die an sich sehr gleichgiltig sind. Um meine
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liebe Eltern zu beruhigen ist dies hinlänglich daß ich alles gethan um auf eine
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gute Art loß zu kommen. Daß ich dies als ein Glück ansehe; weil die
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Gesinnungen von beyden Theilen nicht die beqvemsten dazu waren. Man hat die
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Niederträchtigkeit gehabt einen von meinen Briefen aufzufangen den ich an
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einen guten Freund geschrieben hatte, daß man in demselben einige nicht gar
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zu angenehme Wahrheiten angetroffen pp. daß ich alle Mühe gehabt meine
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Heftigkeit über dies Verfahren zu unterdrücken, daß ich mich zieml.
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überwunden auch einigermaßen gerechtfertigt, daß ich auf die Zeit
appellirt,
welche
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die große Kunst verstünde Ihro‥‥ zu bekehren pp.
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Ich habe an meinem schwachen Magen in Mietau wieder ein wenig flicken
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müßen; Gott Lob mit zieml. Erfolg, v. denke bald völlig dem Leibe v
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Gemüthe nach hergestellt zu seyn. Jetzt eben erhalte meine Apotheckrechnung
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von einem Manne, in deßen Hause ich unendl. Höflichkeiten genoßen v mir
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kaum die Hälfte des Werthes der Recepte angesetzt. Mein lieber Vater wird
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Hoppe
nicht ermittelt
ihn auch gekannt haben. Er heist Hipperich v ist bey Hoppe wo ich nicht irre,
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Haupt
nicht ermittelt
oder Haupt gewesen.
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Ich wünsche Dir zu Endigung Deiner akademischen Arbeiten Glück wie
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auch zu dem Vorsatz, den Du mir in 2 Worten zu verstehen giebst. Erkläre dich
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doch darüber. Ich freue mich daß meine liebe Eltern dir noch einige Akademien
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zu besuchen vermuthlich erlauben werden. Du wirst dazu über ein Jahr nicht
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nöthig haben. Geh doch Göttingen nicht vorbey. Schreibe mir doch mehr
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hierüber; wenn
du
v wie du diesen Entwurf auszuführen gedenkst.
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Genung auf heute. Meine Verwirrung wird bald ein Ende nehmen. Dann
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werde ich mit mehr Ruhe schreiben können. Küße unsern lieben Eltern in
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meinem Namen aufs kindlichste die Hände v lege eine kräftige Vorbitte in
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Ansehung meiner Wäsche ein. Ich glaube meine alte Mutter künftig hiemit auch
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verschonen zu können. Ein paar gute engl. Scheermeßer wird Papa beylegen.
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Lebe
n
Sie
wohl. Grüße alle Freunde. Bleibe der Meinige dem Herzen
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nach wie ich der Deinige bin. Ich wünsche Dir v allen Gesundheit v den Seegen
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Apg 17,28
, vgl. die Bezüge auf diese Stelle in den Londoner Schriften (LS S. 298, 358, 369, 377, 402, 421, 431).
desjenigen, durch deßen Geist wir leben weben v sind. Ich umarme Dich v
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ersterbe Dein treuer Bruder.
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George.
Provenienz
Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 1 (29).
Bisherige Drucke
Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, I 70.
ZH I 118 f., Nr. 47.