467
S. 235
Kgsb.
den 9
Aug.
776.

2
Liebster Freund und Gevatter H.

3
Heute hab ich keinen Brief von Ihnen erwartet, weil kein
Posttag
war
ist; aber

4
geschmachtet habe ich lange darnach und auch noch heute im Geist, weil ich

5
meistens auf dem Bette zugebracht und nichts im stande gewesen

6
vorzunehmen, wiewohl ich ausdrückl. dazu im Hause geblieben. Ich wältzte mich von

7
neuem in den Federn, ohne vor Fliegen schlafen zu können, als der Bote mich

8
ermunterte. Gestern hatte er noch Scheltworte von mir gehört, daß er mir

9
keine Antwort von Ihnen brächte. Der Mensch, dem ich gut bin weil er so

10
schnell läuft wie ich in meiner Jugend und wenn mir noch der Kopf brennt,

11
nahm meinen Verweis mit Sanftmuth auf u. versprach immer ein flinker

12
Ueberbringer zu seyn. Aber daß er heute schon sein Wort baar machen sollte,

13
daran dachten wir beyde nicht – und ich bey der Aufschrift auch nicht die mich

14
desto mehr stutzig machte, weil heute ganz u gar kein Posttag ist – und der

15
Brief selbst der
Vorläufer
eines Gevatterbriefes. Gott gebe daß der kleine

16
Pathe schon da wäre, wo nicht so schenk ihm Gott eine glückliche Wallfahrt

17
ins Land der Lebendigen – Ich bin so unruhig, als wenn der kleine Gast in

18
mein eigen Haus einkehren sollte. Meine 3
S
Kinder
haben ihrer Mutter, ob sie

19
gl. eine harte Adamstochter ist, und mir rechtschaffene Wochen gekostet –

20
Meines (
in parenthesi
gegenwärtig unholden
Dir.
)
Stockm.
Gemalin ist

21
gestern frühe mit einer Tochter erfreut worden –

22
Der Verdacht von Rache
u Talions
Gebühr war mir schon durch unsers

23
Asmus Relation
von seiner
Bück Quarantaine
u der daselbst
in effigie

24
gefeyerten
Procession
benommen worden. Ich konnte also die Schuld auf nichts

25
als eine Verwickelung der Umstände schieben deren Auflösung u Nachricht

26
ich aber so sehr wünschte. Nun Gott Lob! Daß sich alles zu Ihrer

27
Zufriedenheit entwickelt hat und hoffentl noch entwickeln wird. Meine Ungewißheit ob

28
Sie noch in B. wären, hatte allein abgehalten dahin zu schreiben; in Zeitungen

29
soll Ihre Verpflantzung bereits ausgebreitet gewesen seyn, und die neue

30
Aspecten des Mercurs gaben mir davon Bürgschaft.

31
Gestern ist meine älteste Tochter die gantze Treppe heruntergefallen. Die

32
heil. Engel im Himmel selbst sind nicht im stande Kinder zu hüten, geschweige

33
zu erziehen – Gottlob! ist sie ohne Schaden davon gekommen als einem

34
geschundenen Fleck unter dem rechten Auge. Mit meinem Hans Michael geht

35
alles krebsgängig u der Junge verlernt Lust u Sitten. Dies ist mein höchster

36
Kummer, der mir Angst u graue Haare macht, daß ich nichts selbst für seine

S. 236
Erziehung thun und eben so wenig dran wenden kann. Ich hatte einen

2
Sonntag den grimmigen Einfall ihn über Hals und Kopf einzuballiren u dem

3
Pontifex Maximus
zu Deßau zu übermachen, und wollte das
Experiment

4
mit Haut u Haar bezahlen. Die Hitze hat sich wol gefühlt, aber der Wurm

5
nagt noch am Mark, was ich mit dem Knaben mit der Zeit anfangen soll.

6
Ich will ihn seine 7
Jahre
auslaufen laßen; vielleicht schaft Gott bald Rath.

7
In diesem eintzigen Stück hab ich zu wenig Beyhülfe von meiner ehrl. Haus

8
Mutter; kann aber auch nicht mehr als den guten Willen von ihr fordern.

9
Daß ich aber selbst nicht Hand anlegen kann, verdrüst u beschämt mich am

10
meisten. Nicht Häfen von Pirmonter, wie Ihr kleiner Magister, sondern Bier!

11
saufen meine wie die Blutygeln und folgen leider! auch hierinn dem Wandel

12
väterlicher Weise. Ach liebster Gevatter
in spe!
über
gaudia domestica
geht

13
nichts; hierinn besteht der eintzige Himmel auf Erden; aber
mala domestica

14
sind auch die wahre Hölle, selbst für
Patriarchen
und
Davide
gewesen.

15
Gottes Geist und des Menschen Sohn sind hierin die eintzigen Schulmeister.

16
Wie hält sich Ihr Johann Christoph? Ihre Frau Schwester hat mir in langer

17
Zeit nicht geschrieben. Ich kenne die Hand auf Ihrem
Couvert
nicht
recht

18
Wundern Sie sich nicht
somnia aegri
zu lesen. Ich habe 8 Tage an einem Briefe

19
geschrieben und denke durch gegenwärtigen mich erst in Gang zu bringen.

20
Den 4ten Theil habe richtig erhalten durch Hintz, den ich dies mal nur im

21
Vorbeygehen gesehen weil er sich nur ein paar Stunden aufhielt. Ich weiß

22
nichts mehr, als daß ich ihn mit mehr Zufriedenheit als den Anfang gelesen,

23
und durch das Ende sehr aufmerksam gemacht worden. Enthalte noch mein

24
Urtheil und wünsche nichts so sehnlich als die Fortsetzung und den Beschluß;

25
weil ich noch nichts absehen kann, und nichts als das
Gantze
mich bestimmt.

26
Ihre Preisschrift habe an einem Abend durchgelaufen. Sie scheinen mir die

27
Frage dreist aufgelöst aber die Sache selbst so wenig als möglich berührt zu

28
haben. Die Abhandl. in Hintzens Verlag habe von ihm zum Geschenk

29
erhalten.
Der
Verf. soll 50 # bekommen haben
relata
refero
Dieser wahre oder

30
erdichtete Umstand hat das Ding noch abscheulicher in meinen Augen

31
gemacht, als es wirkl. seyn
mag

32
Gewitter! Wirbelwind! und Regenguß! erleichtert den schweren

33
Dunstkreys, in dem ich athme!


34
Den 10 –

35
Mitten im Platzregen erschien gestern Kreutzfeld und wurde durch Ihr

36
Andenken und Versprechen die Fortsetzung der Urkunde zu erhalten reichlich

S. 237
belohnt. Ich habe ihm so nicht einmal erlaubt selbige bey sich nach Hause zu

2
nehmen, sondern er hat blos hier darinn lesen müßen. Unser Landsmann in

3
Potsdam hat mir vorige Woche zwo Zeilen geschrieben u einen langen Brief

4
fast ein halb Jahr unbeantwortet gelaßen. Weil die Sache einen Dritten

5
betrift; so hat mich dies ungemein verdroßen und ich bin ihm recht böse gewesen.

6
Da er aber seine gantze Lebensart (deren Zerstreuung mir gar nicht gefiel,)

7
auf einmal
reformirt
hat bis zur strengsten entgegengesetzten
Diaet
des

8
Umgangs
pp
so schöpfe ich neue Hofnung, daß er von der
Eitelkeit
bald curirt

9
und einen edl. Ehrgeitz dafür erwerben wird. Während des Königs

10
Abwesenheit ist er willens eine kleine
Tour
nach Hamb. Braunschw. u Deßau zu

11
machen. Ich verfolg ihn von weiten, und entfern mich ohne ihn aus dem

12
Gesicht zu verlieren. Er hat übrigens einen schweren Stand – eine Bande von

13
Virtuosen
zu regieren ist ärger als ein Regiment Soldaten. Der König soll

14
ein großes Vertrauen zu ihm haben u hat bereits an Mara
Exempel statui
rt

15
ihm Ansehn zu verschaffen.

16
Was
i
Ihr
Freund, der Uebersetzer der
Zend-Avesta
von mir denken wird?

17
Er hat mir den großen Gefallen gethan seine Uebersetzung u eine kleine

18
inaugural
Schrift seines
Conrectorats
zu übermachen – aber mit so viel

19
Achtung
an mich geschrieben, die mich in Verlegenheit setzt darauf zu

20
antworten; wenn ich auch Muße gehabt hätte. Aber ich bin mit einer Arbeit

21
beschäftigt gewesen, die meinen Geist gantz ausgemergelt und mein Gemüth so

22
trübe gemacht wie eine Pfütze. Urtheilen Sie selbst –

23
Den 27 Märtz war der kalte Brand in einer Nacht bey unserm seel. Freund

24
Lindner
ausgebrochen. Er hat während seiner Krankheit immer gearbeitet u

25
daran gedacht
sein Haus zu bestellen
. Ich bin unverdroßen gewesen ihn

26
ευκαιρως ακαιρως
zu besuchen und abzuwarten, als Freund u. Beobachter.

27
Mehr als einmal bat er mich auch nach dem
Tode sein Freund zu bleiben
.

28
Dieser Ausdruck hat immer meinem Gemüthe vorgeschwebt und einen Stachel

29
der Dunkelheit für mich behalten. Unter anderm ersuchte er mich für seine

30
Bibliothek zu sorgen und hat mich nebst
Lauson
zu
Curatoren
im
Testament

31
eingesetzt, auch jedem ein
Legat
von 50 fl. ausgesetzt.

32
Eben die Nacht da sich der Brand einstellte, hatte ich Briefe von seinem

33
Bruder dem jetzigen Hofrath erhalten, worinn er mich
beschwur
noch ein

34
heroi
sches Mittel
, wenn alle Hofnung aus wär, zu wagen. Die
Ahndung

35
des
Todes
und der
sichtbare
Termin
deßelben! – Unter Klagen über

36
grausame Schmertzen und Wunsch nach ein wenig Schlaf nahm er von mir

37
Abschied mit vielem Muth u Ergebung. Sein letztes Wort, das er mir

S. 238
wiederholentl. zurief, so lang er mich sehen konnte war:
au revoir
!
au revoir
!
Dieses

2
poetische Lebewohl! war ungemein rührend und treffend für mich. Ich gieng

3
Donnerstags frühe wider zu ihm. Seine Aertzte u Blutsfreunde gaben mir

4
im Entgegenkommen zu verstehen, daß er seines Bewußtseins nicht mehr

5
recht mächtig wäre. Ich zog mich daher zurück. Gegen Mittag hat er noch mit

6
zitternder Hand an den König u seinen jüngsten Bruder geschrieben, zu

7
Mittag gantz ruhig geworden und
ist
mit dem Anbruch des Freytags, nachdem er

8
alles haarklein verordnet bis auf das Lied, das Sie ihm im Verscheiden singen

9
u die Erleichterungen welche sie ihm dabey verschaffen sollten, sanft und still

10
entschlafen. Den Charfreytag wurde er bey seinem Vater begraben unter

11
einem sehr ansehnl. Gefolge, bey dem ich sehr entbehrlich zu seyn schien u

12
daher zu Hause blieb.

13
Mein
Fideicomiss
lag mir im Kopf. Die Erben hatten aber alle Bücher

14
versiegeln laßen und man wollte seiner Brüder Ankunft oder Entschlüßung

15
vorher erwarten. Ich fürchte mich vor der Arbeit, weil ich niemals meine

16
eigene Bücher selbst habe in Ordnung bringen können und der bloße Gedanke

17
von Kramen u Fleihen, und Einpacken mich
stupid
macht, Kopfschmertzen

18
und Uebelkeiten – Ich tröstete mich auf
Lauson
und verließ mich noch mehr

19
auf
Pentzel,
den der seel. Mann ausdrückl. erlaubt u verordnet hatte zu

20
unserm Gehülfen. Die Erben drungen uns aber einen
Candidat
en auf, der seines

21
Vaters
M. Richter
im Löbenicht
Catalogum
ohnlängst herausgegeben hatte,

22
auch sich dadurch in den Besitz unserer
Adjunctur
einschmeichelte, daß er für

23
eine große Schaale Kleister gesorgt und einige 100 Klebezettel von seinen

24
jungen HE. Grafen, die
Pensionnair
im Hause waren,
praenumerando
hatte

25
anfertigen laßen. An
Pentzel
war wegen der leidigen
Exercir-
u
Revue
Zeit

26
u gelehrten Arbeiten von denen er leben muste, gar nicht zu gedenken. Auch

27
der
Wind vom
Legat
setzte mich und
Lauson
in Verlegenheit – Um dies auf

28
eine anständige Art zu
declini
ren, gerieth ich wie von ohngefehr auf den

29
Einfall meine eigene Bücher zu verkaufen.

30
Jeder Einfall bey mir ist ein
punctum saliens
voll magnetischer

31
Anziehungskraft u plastischer Industrie. „Was Du jetzt einem Freunde thun must, oder

32
vielmehr seinen Erben, die
mich auch
bisweilen aufbrachten
, bist Du Dir

33
selbst schuldig.“ Meine ungezogene Kinder wühlen unter meine Bücher wie

34
die
s. v.
Schweine im Eichenwalde. Ein Zusammenfluß tägl.

35
Verdrieslichkeiten kein Buch mehr finden zu können und alles was man ausleyht, wieder

36
zu erbetteln – kein Gefühl des Eigentums mehr! Bücher sind wie die Weiber

37
in der platonischen Republick oder an französischen Höfen, wo der Ehmann

S. 239
dem ersten dem besten
Galant
aus dem Wege gehen muß. Ich hatte den

2
eventuellen
Fonds
schon zur Erziehung meiner Kinder und meiner eignen

3
Nothdurft nöthig – und hast Du keine Bücher mehr: so gewinnst du Zeit deine

4
Kinder selbst zu erziehen. Hundert wilde Schwärmereyen mehr, die mir ein

5
Interesse
geben mich der verdrüßlichsten und eckelhaftesten Arbeit mit Muth

6
zu
unterziehen

7
Ich habe das Geschmier dreyer Hände, worunter die meinige die ärgste,

8
weil ich selbige selbst Noth zu lesen habe, in Ordnung
zu
bringen, habe selbst

9
einige Bücher Papier dabey aufgeopfert, den gantzen Sommer wie ein
Erz

10
Minen Sclave darüber zugebracht – dem Verdruß ausgesetzt gewesen immer

11
aufgehalten zu werden u eben so ungebührl. getrieben zu werden, weil die

12
Erben den 1
Oct.
ausziehen müßen – und sitz unter einem Misthaufen von

13
Büchern, die ich wieder in Ordnung bringen und rechts u links scheiden soll.

14
So weit mit genauer Noth gekommen daß ein versudelter
Catalogus
so Gott

15
will, auf die Woche fertig ist.

16
Wie schreckl. sauer mir von einer Seite die Arbeit geworden ist und noch

17
werden wird, kann ich Ihnen liebster Herdern! gar nicht beschreiben. Ich habe

18
öfters wie
Scarron
unter seinem Schlucken Drohungen ausgestoßen – Von

19
der andern Seite versprach ich mir recht viel von dieser Arbeit, die ich keiner

20
Seele nach meinem Tode hatte zumuthen können u sehe selbige wirklich als

21
das wohlthätigste
Legat
meines Freundes an. Vielleicht werd ich abermals

22
aus dem weisen
Seneca
jauchzen können:
de Beneficiis
Lib
II.
cap
33.

23
Perfecit opus suum
Phidias
, etiamsi non
vendidit
.

24
Schreiben Sie allenfalls dies
citatum ad pag.
16.
der Zweifel u Einfälle.

25
Vielleicht wird Gott das
willige Opfer
meiner liebsten
bonorum et

26
donorum
für die volle That annehmen und mich dafür belohnen daß ich dem

27
Eigensinn meines Schicksals
Hagar
ihren Saamen aufopfern wollen.
Bey

28
der köstlichsten Ladung fehlt es niemals an
Ballast
und dem edelsten Acker

29
selten am meisten Unkraut wenn er nicht gehörig abgewartet werden können.

30
Sollte mich unterdeßen selbst die Noth zum Ausbot meines Häuschen
u

31
meiner 3 Kinder zwingen; so hoff ich daß mir auch in der grösten

32
Verzweifelung noch ein
granum salis
überbleiben
wird

33
Sie werden sich also, liebster Gevatter und Freund! weder
alteri
ren, noch

34
wundern, noch schämen, daß ich dem Satrapenmährchen einen gelehrten

35
Banqueroutier
Streich entgegensetze.

36
Ohngeachtet ich die Montagsgebete u Wochenpredigten nicht mehr wie sonst

37
abwarten kann, bin ich noch immer ein fleißiger Mettenbesucher – und von da

S. 240
ordentl. bey meinem Freund Kr. Hennings zum
Caffé. Dom. VI. p.Trin.
trank

2
ich meinen Früh
Caffé
in meinem neuen Gehöft, das durch einen

3
abgebrochnen großen Speicher der in einen kleinen Holtzstall verwandelt worden, zu

4
einem künftigen grünen Platz geraum gnug ist. Ich hatte mich die vorige halbe

5
Woche nicht aus dem
Hause
gerührt, mich weder um die Kayserl. noch Kgl.

6
Hoheiten bekümmert, sondern mit sehr schlechtem Erfolg an einem doppelten

7
Catalog
gearbeitet. Um weder an den
Catalog
denken noch daran arbeiten zu

8
dürfen, springe ich hurtig auf mich anzuziehen und vor Angst die rechte Predigt

9
zu hören. Da komt mir ein unbekanntes Weibstück entgegen, bringt mir einen

10
Gruß von Kr.
Hennings,
der auf mich gewartet hätte und nunmehr spatzieren

11
gefahren wäre – mich aber bitten ließ, die beyden großen Bücher geschwind

12
durchzulesen u ihm selbige morgen Abends wo nur mögl. persönl.

13
einzuhändigen. – Bloß der Zerstreuung wegen hatte ich in die Kirche laufen wollen;

14
und das gebratene Wildbrett kam mir ins Maul geflogen. Mein erster

15
Gedanke ist immer, einem Ueberbringer erkenntl. zu seyn und darnach mich am

16
Geschenk zu befreyen. Hier war es wohl kein Geschenk, als mehr als das. –

17
Die Verlegenheit ob
u.
wieviel ich der Ueberbringerin geben sollte, meine

18
Hausmutter, die all mein Ausgabe Geld in ihrer Verwahrung hat, dazu willig zu

19
machen – Ein physiognomischer Blick auf die Ueberbringerinn und der

20
Himmel kennt das Spiel der Gedanken und Bewegungen am besten in den

21
kleinsten kritischen Augenblicken, die unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen – Ich

22
freute mich, daß ich meinem blinden verwöhnten Triebe Biergeld auszutheilen

23
wiederstanden hatte u gieng mit einer triumphirenden Miene und zwei

24
Quartanten
groß Format in mein Gehöft, um meine Andacht auf eine andere Art

25
zu befriedigen. Sie sollten noch denselben Tag mir aus den Augen und aus

26
dem Hause seyn um den Montag darauf in meinem
Catalog
fortfahren zu

27
können.

28
Der erste Theil wurde bey Seite gelegt und ich laß wie ein hungriger

29
Mensch, der die gantze Woche mit Grütze für lieb genommen u den Sonntag

30
auf einen fetten Kalbsbraten zu Gaste ist. Ein viertel des Buchs war in einer

31
Stunde verschluckt und ich fieng an zu blättern, oder wenn man einen guten

32
Grund gelegt, nach Pfefferbißen zu wühlen. Indem ich bilderte, fiel mir

33
natürl. Weise eins auf, wo ein großes Zeichen lag, das ich bisher gar nicht

34
bemerkt hatte. Niemals hat Original und Copie sich einander so angestaunt,

35
Autor
Leser
und Kunstrichter, als der geneigte Leser über sich selbst.

36
Meine Verlegenheit wegen der Scheidmüntze, die ich der Ueberbringerinn

37
zugedacht hatte mit dem Ende des Fragments – der Umstand des eben zu der

S. 241
Zeit gesprochenen
Clair-obscur
über die Areopagiten – die Anführung des

2
Spruchs
mit einer Ähnligkeit der eben daselbst
allegirt
en Stelle
über einen

3
gl. Gegenstand – die sich kreutzende Strahlen, der tiefliegende Brennpunct –

4
das bey sämtl. Herren
Interessenten
vom
K-
bis zum
K--
noch nicht

5
verblutete Ebentheuer mit dem Eselsohr –
u
hundert Kleinigkeiten mehr waren

6
gleich den Regentropfen, die ein durstendes Land erquicken –

7
Kurz die Eitelkeit der Abigail für ein
Weib
von guter Vernunft und

8
schön von Angesicht
wenigstens von einem inspirirten Physiognomisten

9
ausposaunt zu werden verwandelte den lieben guten Lavater zu einem Seher

10
Gottes in meinen Augen und zu einem ausdrückl. Engel der mit einem Kelch

11
vom Himmel erschien, mich im Staube meiner Sorgen zu stärken. Heil ihm,

12
dem Nasen- Mund- und Ohr Seher, der vielleicht meiner nächsten langen

13
Weile, die mir Gott schenken wird, ein sokratisches Lachen über meine eigene

14
Gestalt, wie ich selbige
in littore
seines zweyten Versuchs zur Beförderung

15
der Menschenkenntnis u Menschenliebe gesehen, zubereitet.

16
Vielleicht werden Sie nichts von allen diesen Thorheiten lesen können, die

17
ich im Geist einer Abigail schreibe. Sie
S
selbst hat im Geist Davids zu

18
spielen gesucht. Um den 1 Theil der Zweifel hab ich gearbeitet mitten im

19
Hertzen des vorigen Sommers und letzten Winters, ohne mein Ideal aufgeben

20
zu können noch zu wollen. Die 2 Hälfte von Einfällen, die Ihnen beßer

21
gefallen, ist mir dafür geschenkt worden.
Lex operis
war
per
nugas
ad
seria

22
zu führen. Uebrigens haben Sie recht daß sich alles auf den
krummen Gang

23
der Areopagiten bezieht, und ich mehr
ankündigen
als
ausführen
wollen!

24
Wenn die Bahn gebrochen und fertig ist, so ist der Einzug eine leichte Sache,

25
und Pomp mehr ein Spiel als Arbeit des Helden. Es heist
also
noch immer

26
bey mir:
hic Rhodus, hic salta.

27
Ich hoffe, liebster Gevatter, Sie werden aus meiner
Selbstliebe
die beste

28
Ahndung auf die Liebe meines Nächsten ziehen. Vielleicht ist dies der höchste

29
Grad, höher als das
wie
, seine Freunde
in
sich selbst zu lieben, als die

30
wahren Glieder unsers Glücksystems, als die Eingeweide seines Lebens –

31
Was Sie mir von dem lieben
Cl.
schreiben, ist mir eben nicht unerwartet.

32
Vielleicht wär es ihm beßer gewesen meinem tollen blinden Wink zu folgen

33
u nach Preußen zu kommen. Die feine Luft scheint ihm dort nicht zu

34
bekommen. Ich habe mich über Euch beide Künstler seines Glücks
gefreut
– aber

35
eben so sehr darüber
gewundert
, wie es Euch mögl. werden würde einen

36
Wandsbecker Boten in einen
Oeconomie Inspector
zu verwandeln. Wenn er

37
zu einer Organisten Stelle bestimmt u ein guter Gesellschafter
ist;
so schieben

S. 242
Sie sein Glück in Weimar nicht auf und heben Sie mir den
Calcanten
Posten

2
auf, weil ich nicht musicalisch bin. Ich will ihn schon fleißig erinnern, daß er

3
das Stimmen seiner Orgel nicht vergeßen soll, wie seines Claviers.

4
Das Wunderthier selbst kennen zu lernen weil ich aus allen Beschreibungen

5
des
micromegas
nicht
klug werden kann und Bückeburg zu überrumpeln, sind

6
immer 2 Hirngespinste gewesen, die
parallel
auf mich gewürkt haben. Wenn

7
dem lieben Gott noch was an meinem Leben gelegen seyn sollte: so hab ich

8
eine Zerstreuung für meine Gesundheit nach meinem so vieljährigen

9
Gefängniße im eigentlichsten Verstande nöthig, und die häusl. Zufriedenheit, welche

10
bisher alles ersetzt, wird wegen überwiegender Beängstigungen immer leichter

11
u hinfälliger, das mir also nichts übrig bleibt als die letzte Hofnung aller

12
fehlgeschlagnen Wünsche – ein
Deus ex Machina
oder im Gewitter, wie ich

13
ihn heute im Hiob gelesen – vielleicht zum letzten mal in meiner

14
Michaelisschen Uebersetzung.

15
Ich Ihnen an eine Kunst zu sehen gedacht, woran
Penzel
arbeitet
?
Weder

16
ihm noch mir ist so etwas eingefallen. Krause ist mir ganz fremd geworden

17
u übersetzt für Kanter auf
Greens
Empfehlung eines
Arthur Youngs

18
politische Rechnungskunst. Krause hat woran gearbeitet – Was es
gewesen,
hat er

19
und ich nicht vielleicht recht gewust. Er wurde darüber krank vor

20
Ueberspannung seiner Kräfte. Wenn ich ja so ein
Analogon quid
geschrieben; so mag

21
ich von deßen Arbeit mit ihm geträumt haben. Ob es Kunst zu sehen seyn

22
sollte, weiß selbst nicht mehr, weil mein Gedächtnis ephemerisch ist und alles

23
was ich lese bey mir zu Asche wird, worinn ein
granum salis
höchstens übrig

24
bleibt, das beym
Elaboriren spagi
risch-hermetisch-palingenetische

25
Wundergestalten hervorbringt.

26
Daß ich Jacob Behm u Pordäge gelesen habe werden Sie aus Beyl.

27
ersehen. Das lustigste bey dieser Anführung ist, daß der Name Eberhard

28
daselbst vorkommt. Ich habe das Vergnügen gehabt im Ernst wegen dieser

29
Recension beklagt zu werden – Es mögen eben soviel sich darüber gefreut

30
haben, ohne zu wißen, daß sie von guter Hand kommt, die sich selbst nicht weh

31
thun wird.

32
Es thut mir leid, daß Sie von meinem Schwiegersohn nicht viel beßer als

33
dem
ppo
von
Sans-Soucy
u. seinem Capellmeister denken. Ich bin

34
mistrauisch gnug gewesen – auch sag ich für keinen Menschen auf der Welt gut,

35
so wenig für mich selbst als für ihn; aber in dieser gantzen Sache möchte er

36
wohl
gantz
unschuldig seyn, und Sie sind durch eine falsche Nachricht

37
hintergangen worden. Er hat hier seine Zuhörer fast alle verloren, und zugl. den

S. 243
meisten Umgang. Kanter hat sich erboten ihn in seinen Laden u Haus zu

2
nehmen, wozu er willig gewesen; aber es fehlt an einem kleinen Vorschuß, der

3
unter ihnen verabredet worden, und Penzel ist ein Mann von Wort, und

4
strenger in diesem Stück, als man es ihm zutrauen sollte. Sein Hertz ist so

5
offen, wie sein Kopf – Er hat mir seinen Lebenslauf so haarklein erzählt, daß

6
sein
Schicksal
mir mehr für ihn eingenommen hat als alles übrige – und in

7
diesem gantzen Schicksal herrscht eine solche
Naivität
und
Unschuld
von

8
seiner Seite, die ihn größer in meinen Augen macht als seine Anlage zur

9
Gelehrsamkeit. Unterdeßen bekennt er von sich selbst, daß gute Tage ihm sehr

10
gefährlich sind, und die mittelmäßigen auch vielleicht hier für ihn geworden wären –

11
Können Sie mir die Stelle anzeigen in der Lemgoer Bibliothek, so überheben

12
Sie mich der Mühe selbige künftig selbst blos dieser Ursache wegen

13
durchzulaufen. Er besucht mich ordentl. die Woche einmal u studiert beynahe blos

14
für seinen eignen Autornahmen auf eine neue Ausgabe des
Horatzens
u

15
von neuem
Geographie
. Ich bin aber nicht im stande seine Hülfsmittel dazu

16
u die Hinlänglichkeit derselben zu übersehen.


17
Den 13 des Morgens frühe.

18
Meinen guten Willen Ihnen zu antworten werden Sie wenigstens verstehen

19
können und eben so sehr wie sauer es mir wird aus Mangel der Zeit und –

20
Ist jetzt die Hälfte Ihrer Urkunde heraus? Möchten Sie mir nicht einmal den

21
Innhalt des übrigen
in nuce
mittheilen ehe er noch herauskommt, oder

22
können Sie schon absehen, wenn alles fertig werden dörfte – Wird Ihre

23
bevorstehende Verpflanzung nicht einen zieml. Stillstand verursachen; ich glaube

24
aber fest, daß Ihre künftige Gegend auch in Betracht Ihrer Autorlage Ihnen

25
günstiger seyn wird. Ich habe noch gar nicht erfahren können worüber

26
Eberhard den Preis erhalten, so gern ich es wißen möchte. Die neue Ausgabe hat

27
Nicolai
u er mir geschickt. Ich habe mir vorgenommen sie gantz langsam zu

28
lesen, bin
ich
fast nicht mehr im stande etwas langsam zu lesen u scheine auch

29
weniger Vortheil davon zu haben als von meinem Galop. Wie mir bey diesem

30
Buch zu Muth ist, ohngeachtet ich nur im Anfange bin, kann ich Ihnen nicht

31
sagen. Sehr oft wenn von der Orthodoxie die Rede ist, fällt mir die

32
Philosophie de S. S.
ein – Wenn die
Zend Auesta
gantz seyn wird, werd ich Ihre

33
Erl. wieder
vornehmen.,
weil mir noch in
Allem
am Zusammenhange fehlt.

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Unter allen Ihren Werken dörfte aber wol die Urkunde mein Liebling bleiben,

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und da Sie wirklich Ihr Wort in vielem erfüllen so wünscht ich am Ende die

36
Ballance
zu ziehen von
dem.,
worinn wir übereinstimmen u von einander

S. 244
abweichen, worinn Sie zu
weit gehen
und nach meinem Gefühl für mich

2
zurück
bleiben

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Ich oder vielmehr mein innerer Mensch ist von Gram, Unruhe, Verdruß,

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Aerger und kümerl. Sorgen so ausgemergelt, daß ich selbst nicht weiß was

5
ich thue oder noch thun werde – Ich bin willens Ihren Geburtstag statt des

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meinigen dies Jahr zu feyren, weil letzterer auf einen Dienstag fällt.

7
Erfreuen Sie mich doch nur bald mit der Nachricht einer
glücklichen

8
Entbindung
– Ich habe Ihnen nichts zur Sache geschrieben und noch so viel im

9
Sinn und
petto.
In Bückeburg können Sie wohl nichts als meinen
Catalog

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von mir erwarten. – Vielleicht sehen wir uns von Angesicht zu Angesicht in

11
Weimar oder können uns ein
Rendezvous
nach Herzenswunsch einmal geben.

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Gott begleite Sie mit Seinen guten Engeln – Sollte mein kleines liebes

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Pathchen beym Empfang dieses schon da seyn: so sagen Sie Ihm ein herzl.

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zärtliches, inniges Willkommen. Meiner liebens- und ehrwürdigsten

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Gevatterin küße ich Mund und Hände. Gott erhalte und vermehre Ihre Hausfreude

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60 und 100 fältig. Mein Hänschen empfiehlt sich dem
kl.
Magister u

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seinem alten Freunde Joh. Christ. Gott seegne Sie – Künftig mehr. Ich ersterbe

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Ihr treuergebenster Freund u Gevatter

19
J. G. Hamann.

Provenienz

Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 136–138.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, V 169–181.

ZH III 235–244, Nr. 467.