459
211/29
Königsberg am 28 Janner 1776.

30
Dom. IV. p Epiph.

31
Den 6
Sept. p.
erhielt den letzten Brief aus Bückeburg vom 25
Aug.
dem

32
32 Geburtstage
dati
rt – zum Anfang des Neuen Jahrs zankt ich mich mit

33
meiner Freundin in Morungen, daß sie nicht mehr an Ihr Fleisch und Blut

34
am Ende der deutschen Welt und Ehrlichkeit dächt; und daß sie es zu

35
verantworten hätte, daß ich solange lange nicht geschrieben, weil ich immer auf

S. 212
eine Einlage von ihr gewartet – die ich bereits den 12
huj.
richtig erhalten u

2
wider meine Natur u Gewohnheit biß jetzt habe liegen und alt werden laßen,

3
auch gar nicht Willens war
heute
zu schreiben, sondern vielleicht erst diese

4
Woche – oder höchstens und gewiß heute über 8 Tage am
V. Dom. p.

5
Epiph.

6
Nun, mein lieber Herder! werden Sie mir vielleicht danken, daß ich
malgré

7
moi
acht Tage eher ankomme. Ein wenig sind Sie auch an meinem

8
Stillschweigen
Schuld
, weil ich bey meiner Treu nicht wuste, ob Sie noch in B. oder

9
schon in G. waren und mir die Grille ich weiß nicht wie in den Kopf gefahren

10
war, in Ihren Entschluß
nicht
den allergeringsten Einfluß zu haben. Da Sie

11
noch in B. sind und man Sie vermuthlich in G. nicht haben will: so ist es mir

12
hertzlich lieb – Man fühlt freyl. am besten die Verlegenheiten seiner

13
gegenwärtigen Lage: welcher Mensch ist aber im Stande alle kleine Zufälle der

14
künftigen abzusehen? Von Hartknoch habe auch nicht mehr als einen Brief

15
erhalten und vor einigen Wochen gehört, daß er in Lebensgefahr gewesen

16
seyn soll wegen seines Gewächses, das Gott weiß wie aufgebrochen der

17
Luftröhre zu nahe. Seitdem habe nichts gehört und hoffe daß es sich zur Beßerung

18
anläßt. –

19
Hier unterbrach mich Schul
College
Kreutzfeld und verließ mich mit einem

20
Gruß an Sie. Sein
Intimus,
CapellMeister
Reichard, hat die Gnade unserm

21
Landesvater zu gefallen und den Beruff bekommen, seine Ohren zu kitzeln;

22
welches vielleicht ein gutes
Omen
für die Landskinder werden kann. – Sie

23
wißen, der Vater ist mein alter Freund gewesen, und ich habe mit dem Sohn

24
auch gegen das Ende Umgang gehabt. Es ist aber meine Neigung nicht der

25
aufgehenden Sonnen zu zufliegen, und das Abendroth ist eine sichere

26
Prophetin, nach dem Sprichwort.

27
Ihre
Preißschrift erwarte
, habe aber selbige schon den 6
Xbre
am Tage

28
Nicolai
des Abends durchgelaufen u denselben Abend Nachricht durch

29
Reichard
von
Claudius
Ruff nach Darmstadt erhalten. Weiß nicht ein lebendig

30
Wort mehr davon, und was Sie
s
Selbst wißen, darf ich nicht schreiben.

31
Daß Sie den Preiß verdient haben und verdienen – Auch Wahrheiten haben

32
Sie gesagt, aber in der
Hauptsache
zu wenig für mich und für Ihre Freunde

33
und Feinde. Sie thun aber klüger an Ihre Areopagiten und
Kunstrichter

34
Trabanten zu denken. Da ich meinen eignen Weg noch suche ohne ihn recht

35
gefunden zu haben; so bleibe ein jeder in seiner Laufbahn, muntere sich

36
einander auf, ohne sich zu richten.

37
Vergeßen Sie nicht vor allen Dingen die Fortsetzung Ihrer Urkunde, woran

S. 213
dem
Publico
,
dem
Verleger
,
mir
und allen
übrigen Freunden
besonders

2
Kreutzfeld
gelegen ist und die Sie uns allen schuldig sind. Also
zaue
Dich

3
2
Sam. V.
24.

4
Meine zweite Freude war ein Gevatterbrief den ich den 22
Nov.
erhielt zu

5
meiner kleinen Pathin

6
Christiana Augusta Maria,

7
meiner künftigen Schwiegertochter, wenn es Gottes Wille ist. Gott seegne

8
Sie und den treuhertzigen Layenbruder davor, daß Ihr alle beyde für das

9
ehrliche deutsche Blut so bidermannisch gesorgt habt. Giebt es denn keine

10
Metropolitan
Stelle oder
Superintendentane
im Darmstädtchen, wo Caroline und

11
Sie glücklicher leben könnten als unter den Schulfüchsen und der

12
Mördergrube – Ein bischofflich Amt ist ein köstlicher Werk als die
πρωτοκαθεδρα
unter

13
Schriftgelehrten u Pharisäern und mosaischen
Publici
sten.

14
Noch eine dritte kleine Nachfreude war ein gedruckter Gevatterbrief zum

15
deutschen
Museo,
den ich durch
Prof. Kant
erhielt
medio Dec.

16
Bertuchs Uebersetzung habe auch zum Beschluß des Jahrs zu Ende

17
gebracht u gestern von neuen u zum zweiten mal mit meinem
Freund
u

18
Schwieger Sohn
Pentzel
angefangen. Sein Weihgesang liegt bey.

19
Mein
Director
u Gönner
Stockmar
ist vorige Woche nach Berl. gereist.

20
Gott schenk ihm Gesundheit u Seegen zu seiner Reise und baldigen

21
Zurückkunft.

22
Vorgestern bey der starken Kälte wieder anfangen wollen zu arbeiten an

23
meiner alten Schuld und Rückstand für den alten Vetter
Nabal
– aber noch

24
wollen die
patriae manus
nicht recht dran – und das
Αμην αμην
der Abbtschen

25
Correspondentz soll doch wol noch mit Gottes Hülfe nach ein Dutzend Jahren

26
erfüllt werden, weil ich nicht gern wie Bileam abermal meinen Spruch

27
anfangen möchte mit einem: Ach! wer wird leben! –
Orlando furioso
soll nicht

28
umsonst das
Motto
dazu gegeben haben.

29
Der Beschluß der
meiner
büffonschen Ideen über den Styl u meine

30
Anmerkungen über den Anti Styl sollte morgen heraus kommen, habe aber –

31
der Himmel weiß
warum
? noch
wozu
? keine
Correctur
erhalten und wird

32
also wol zur Donnerstagsbeyl. und 1
Febr.
bleiben müßen.

33
Können Sie mir sagen, ob
Buffons Discours
schon irgendwo übersetzt ist?

34
Vergeßen Sie nicht diesen Punct zu beantworten.

35
Dies Jahr habe wider aller Menschen Vermuthen mit
Freund Hayn

36
zusammengenommen 8 Beyl. geliefert und 2 Recensionen die
Erziehung
u.

37
Ehe
betreffend. Für dies Jahr sind zwey da u die dritte in der Mache – und

S. 214
damit holla! Sie erhalten alle zu beliebigem Gebrauch. – u können die letzte

2
mit erstem erwarten. Das
Programm
betrift nur die beyde ersten Stücke der

3
G. R. u geht den Landtag gar nicht an. Ihr Gutachten wird mir willkommen

4
seyn und brauche selbiges – weil ich noch
brüte
und
sitze
über meinem Plan,

5
ohne ihn bereits
gelegt
zu haben
.

6
Vielleicht sehn wir uns alle einmal in Darmstadt oder in unserm

7
Vaterlande,
the
cursed country.
Gott weiß am besten, wie mir darinn zu Muth ist

8
und wie ich die Freyheit der Preße brauche. Nichts mehr hievon. Gedult u

9
guter Muth sind desto beßer und nöthiger

10
Nun was machen Sie, Ihr vortreffliches Weib und der kleine Mohrenkopf –

11
und meines Hänschens guter Freund Johann Christoph.?
Si valetis B. E.

12
et nos valemus.
– welches doch im Grunde alle Schätze übertrifft und allen

13
Herrlichkeiten von Gottes Gnaden die Stange hält. Es ist wahrer Unsinn

14
und Undank sich ein Haar mehr oder weniger zu wünschen als man hat, und

15
gewiß beßer Elisa als Absalom zu seyn, Lazarus als zum Teufel zu

16
fahren, nachdem man lange gnug gleich ihm das
Factotum
auf der Erde

17
gespielt – –
Abeat cum ceteris erroribus!

18
Meine Brieflade sieht so erschrecklich wüste aus, daß ich nicht das Hertz habe

19
hereinzusehen u nach Ihrem letzten Briefe zu suchen. Wenn ich mich recht

20
erinnere; so hat Ihnen der treuherzige Bruder meine
Hypotheque
ausgeliefert.

21
Gestehen Sie aufrichtig, ob es geschehen ist und ob Sie mein verpfändetes

22
Mst.
gelesen haben – der Brocken in den hieroph. Briefen ist die einzige Stelle,

23
welche ich daraus behalten habe und es ist buchstäbl. wahr, daß ich bis auf

24
den letzten Flick davon verbrannt und aus dem Wege geräumt. Ob Sie aber

25
einigen Aufschluß daraus ziehen können, daran zweifele ich sehr. Das

26
pretium affectionis
liegt blos in der Autor Seele und in ihrer geheimen

27
Geschichte. Ich beschwöre Sie bey Ihren
Pontificalibus
mir die Wahrheit zu

28
berichten – –

29
Nun, liebster Herder! antworten Sie bald Ihrer lieben Schwester, meiner

30
Freundin in Morungen und thun Sie mir gehörigen Bescheid auf alle meine

31
Anfragen – Ich habe vorige Woche des Mitauschen Hartmanns
Recension

32
Ihrer Briefe
Jac.
u Judä in der Allg. Theol. Bibliothek angesehen ohne seine

33
Absicht verstehen zu können ob er wider oder für
s
Sie
gedacht hat. Das

34
Schreiben des Herrn Wgs in Curl. an seinen alten Vater werden Sie vermuthl.

35
gelesen haben.
Kopp
ist hier durchgegangen hat einen
Selim Halicum
bey

36
G R. v
Ziegenhorn
in Hintzens Namen für mich zurück gelaßen ohne eine

37
Zeile vom Verleger noch die geringste Spur des flüchtigen
Passagier
den ich

S. 215
erst nachher aus den Zeitungen von ungefehr vermuthete. Es würde mir

2
tausendmal lieber seyn wenn Sie im Darmstädtchen oder im Vaterlande

3
versorgt würden, und ein
medius terminus
zum letzten läßt sich aus dem ersten

4
zu seiner Zeit erwarten. Laßen Sie sich in Ihrer Autorschaft weder durch

5
Beyfall noch Tadel irre machen – Die bisherige Geschichte derselben kann die beste

6
Wegweiserinn für Sie seyn, daß Freunde und Feinde so wandelbar wie das

7
Publicum sind. Die lange Weile ist für mich eine günstigere Muse als Affect,

8
der verhaßte Wahrheiten noch verhaßter macht, und kaum mit ihnen bestehen

9
kann. Vergeßen Sie nicht Ihre Urkunde und befriedigen Sie den
Verleger
,

10
indem Sie Ihrem
eignen Character
Gnüge thun.

11
Ich habe erst vorige Woche den
Pendant
zum
Systeme de la Nature

12
gelesen,
neml
das
Systeme Social,
das mir eben so langweilig als
Diderot

13
Oeuvres morales
vorgekommen. Wißen Sie den Verfaßer zum
Bonsens:
so

14
melden Sie ihn, weil ich selbst daran zweifele, daß es
Diderot
ist und ich

15
propter compendium
ihn dazu
metaschemati
sirt. Sie wißen daß diese

16
unbekante Figur eine meiner Lieblings Vortheile im Schreiben ist, besonders in

17
demjenigen Stück, was ich
Oeconomie
des Plans nenne und in der Poesie

18
die
Fabel
heist.

19
D. Verpoorten
in Danzig läßt einen
Anti-Hephaestion
drucken und mein

20
Beichtvater den Psalter in viel Theilen mit seinem Kupfer voran.

21
Helvetius
Werk von der Erziehung habe auch nur erst kürzl. gelesen und es

22
hat daher so viel Einfluß in meine Anmerkungen über den Styl gehabt.

23
Ich habe hier an Geheimen
Tribunals
Rath
Ohlius
einen großen Freund

24
verloren den ich noch am letzten Sonnabend des alten Jahrs und den Tag

25
vor seinem plötzl. Ende gesprochen
hatte
und mich recht hertzlich mit ihm

26
unterhalten hatte. Nun weiß ich wahrlich nichts
mehr,
und kann auch nach

27
meiner Lage nichts wißen was Sie auf irgend eine Art
interessi
ren könnte.

28
Kanter ist mit meinem
Director
nach Berlin gegangen auf einen einzigen

29
Tag um seinen u Eberhards Mäcen zu sehen, auf deßen 2te Aufgabe ich sehr

30
ungedultig bin.

31
Mein Geist wird ruhig seyn, wenn ich mich an
Nabal
werde gerochen haben.

32
Ein Brief von Ihnen u gute Nachricht von Ihrem Hause und Ihrer alle

33
Zufriedenheit wird Oel für meine dunkle Lampe seyn. Ich küße Sie, Mutter und

34
Knaben – Hänschen meldt seinem Freunde, daß der große Hahn seit seines

35
Vaters 45sten Geburtstag nicht mehr gekräht – All unser Hausvieh, die alte

36
Katze mit eingeschloßen, ist Hungers
crepirt.

37
Ich will es mit meinen 7 Köpfen, die mein Haus ausmachen, mir es gut

S. 216
schmecken laßen bis auf den letzten Heller – und bis auf den Tag, den der

2
Herr regnen laßen wird auf Erden – Leben Sie wohl und zufrieden bis auf

3
ein glücklich Widersehen.

4
J G Hamann.


5
Mein alter Freund Lindner ist sehr hinfällig, er scheint sich kein länger

6
Leben versprechen zu können. Er ist jetzt Kirchenrath u Prediger in Löbnicht.

7
Die Oberhofprediger Stelle ist noch unbesetzt und man weiß noch gar nicht

8
wem sie zugedacht ist.

Provenienz

Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 134–135.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, V 159–164.

ZH III 211–216, Nr. 459.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
212/8
Schuld
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
schuld
212/20
CapellMeister
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Capellmeister
213/1
mir
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
mir
213/2
Dich
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Dich
213/17
Freund
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Freunde
214/5
zu haben
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
zu haben
214/33
s
Sie
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Sie
215/12
neml
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
neml.
215/26
mehr,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
mehr