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Mein Gütiger Herr Baron,
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Ich habe alle Tage an Sie geschrieben, weil es aber nicht mit der Feder in
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der Hand geschehen, so ist nichts auf Papier, und folglich eben so wenig
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Brief
nicht überliefert
Ihnen zu Händen gekommen. Darüber erhielte Ihren schmeichelhafften Brief
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mit letzterer Post, worinn Sie meine
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Bedingungen unterzeichnet haben.
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In dem Gewühl von Gegenständen, die sich zur Unterhaltung unsers
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abgeredeten Briefwechsels anbothen, ist mir die Wahl schwer geworden. Wir
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wollen das Faß erst wo anzapfen; wenn die erste Probe ein wenig trübe
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aussieht, so wird es bald klarer laufen.
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Es fiel mir unter andern ein, Ihnen einige Gedanken über den Beruff
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eines kurländischen Edelmanns mitzutheilen. Da ich aber im Begriff war mir
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selbige abzufragen; so fühlte ich mich zu schwach mich an diese Materie zu
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wagen. Die Sache selbst schien mir doch einer Aufmerksamkeit und
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Untersuchung würdig zu seyn. Helfen Sie mir die Zweifel auflösen, die ich mir
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selbst gegen meine Aufgabe machte.
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Kann man dem Edelmann wohl einen Beruf zuschreiben, oder paßet sich
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dieser Begriff bloß auf den Bauren, oder Handwerker, oder Gelehrten? Um
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hierauf zu antworten, müßen wir uns einander erklären, was wir durch den
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Beruff verstehen. Ist dies ausgemacht, daß der Edelmann einen Beruff hat,
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der ihn von andern Ständen und gesellschafftlichen Ordnungen unterscheidt,
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und zu einer besondern Art derselben macht und bestimmt; so wollen wir
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unsere Neugierde weiter treiben, biß wir finden, worinn denn der Beruf
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eines Edelmanns bestehe?
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Jetzt würden wir einen guten Weg zu unserm Ziel zurückgelegt haben.
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Meine Gelehrigkeit, meine Freude Ihnen nachzugehen wird Sie aufmuntern
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sich die andere Hälfte Ihrer Arbeit nicht verdrüßen zu laßen. Sie werden
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einige Hauptzüge entwerfen, wodurch sich der Adel Ihres Vaterlandes von
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dem Bilde eines Edelmanns überhaupt und den Kennzeichen besonderer
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Völker und Staaten unterscheidet. Hier würden Sie einige historische
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Nachrichten und politische Beobachtungen nöthig haben, die Sie aus der besten
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Bibliothek nicht so geschwinde sammlen würden, als die Belesenheit Ihres
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Hofmeisters
Gottlob Immanuel Lindner
würdigen Hofmeisters sie Ihnen im Vorbeygehen anbieten wird.
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Nun würden Sie meinen Vorwitz, Lieber Herr Baron, so weit gegängelt
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haben, daß wir das Augenmerk deßelben erreicht haben. Sie würden aus den
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vorangeschickten Sätzen im stande seyn meiner Anfrage ein ziemlich
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hinlänglich Genüge zu thun, und mir Ihren Sinn über den Beruff eines
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kurländischen Edelmanns erklären können.
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Hier haben Sie den Zuschnitt zu einer Reyhe von Briefen, die ich von Ihnen
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erwarte: Sie werden über den Innhalt eines jeden, den Sie mir schreiben
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wollen, eine kleine Unterredung mit Ihrem Herrn Hofmeister anstellen und
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seine Begriffe mit Ihrem eigenen Nachdenken zu Hülfe nehmen. Es wird aber
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Ihre eigene Arbeit seyn selbige aufzusetzen und auf eine deutliche Art in
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Worten auszudrücken: Aufmerksamkeit und Ordnung in Ihren Gedanken wird
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sich wenigstens durch einen natürlichen Verstand desjenigen, was wir sagen
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wollen und eine gehörige Rechtschreibung der Wörter zeigen.
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Sie sehen, wie der Satz, über den wir beyde unsern Kopf und unsere Feder
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ein wenig üben wollen, die Frage ist: Worinn der Beruff eines kurländischen
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Edelmannes bestehe? Diese läst sich ohne Mühe in gewiße Theile spalten,
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absondern, und stückweise ansehen. 1. Was ist ein Beruff. 2. Was ist der
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Beruff eines Edelmanns. 3. Was ist ein kurländischer Edelmann. 4 Was ist der
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Beruff deßelben?? Die ganze Kunst zu denken besteht in der Geschicklichkeit
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unsere Begriffe zergliedern und zusammensetzen zu können. Das beste
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Uebungsmittel unserer Vernunfft besteht darinn, Schule in sich selbst zu halten. Die
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Fertigkeit zu fragen und zu antworten ertheilt uns das Geschick eines
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Lehrers und ernährt zugleich die Demuth eines Schülers in uns. Der weiseste
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Bildhauer
Sokrates
Bildhauer und Meister der Griechischen Jugend, der die Stimme des Orakels
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für sich hatte, frug wie ein unwißendes Kind, und seine Schüler waren
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dadurch im stande wie Philosophen zu antworten ja Sitten zu predigen, ihm
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und sich selbst.
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Sie werden sich keine Gebirge von Schwierigkeiten in der Uebung
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vorstellen, die ich Ihnen aufgebe. Muth und Gedult gehören zu den Schularbeiten,
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und durch diese werden jene reif, wenn sie zu Kriegs-
exercitiis
und Feldzügen
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einmal da seyn sollen.
Liuius
wird Ihnen erzählt haben, womit Hannibal
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die Alpen schmeltzte. Die Gedult ist eine Tugend, die uns sauer zu stehen
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kommt; und aus mislungenen Versuchen entsteht wie der Eßig aus
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umgeschlagenen Getränken. Die Tapferkeit selbst ist nichts als die Blüthe der
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Gedult. Haben Sie welche mit meinem Briefe, der die Geschwäzigkeit eines Alten
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nicht uneben nachahmt. Ich werde zu diesem Charakter keine Maske nöthig haben.
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Nach meiner unterthänigsten Empfehlung an Dero Gnädige Eltern, die
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ich mit den herzlichsten Wünschen alles hohen Wohlseyns begleite, verharre
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mit der aufrichtigsten Neigung Ew. Hochwohlgebornen ergebenster Diener
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und Freund.
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Riga. den
15.
Septembr.
1758.
Hamann.
Provenienz
Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 35.
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, I 293–297.
ZH I 247–249, Nr. 113.