716
S. 82
Kgsberg den 22 8
br
83.
2
Herzlich geliebtester Landsmann, Gevatter und Freund,
3
Seit wie viel Wochen hab ich schon in Gedanken an Sie geschrieben! Nichts
4
zu melden habe Ihnen gehabt, was der Mühe lohnte; doch um wenigstens gute,
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wo nicht beßere Nachrichten von Ihnen und den mir so lieben Ihrigen zu haben.
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Dies ist der Haupttrieb, warum ich auch jetzt schreibe – Etwas von Ihnen zu
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wißen und zu hören. Ich habe diese Woche eine neue Cur angefangen, die
8
Dulcamara,
welche mir der junge Doctor Lindner schon seit August verschrieben,
9
kann aber noch keine Wirkung oder Abführung durch irgend einen Weg merken.
10
Doch mit Ihren
Qvecken
, für die ich Sie tausendmal geseegnet, gieng es
11
ebenso. Sie befreiten mich in 8 oder 14 Tagen von einem Uebel das mich 10 Jahr
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beunruhigt, ohn daß ich Schweiß, Öfnung oder anderweitigen Abgang gemerkt.
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Seit Jahr u Tag bin ich befreit gewesen, auch bald wider durch einen kurzen
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Gebrauch erleichtert worden. Nun verbind ich sie mit der neuen Cur, u trink selbige
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Mittags. Jetzt ist mein Kopf voll Geschwüre nebst den Lenden, der übrige Theil
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des Leibes rein. Das linke Ohr fault mir, wie bey kleinen Kindern, der ganze
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Nacken voller Drüsen – meinen alten rothen plüschnen Rock u einen alten
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schwarzen hab ich aufgeben müßen,
blos
aus keiner andern Ursache, als weil
19
ich
diesen
beyden leider! ausgewachsen bin. Nachdem ich seit den 18 – 20
huj.
20
kein Kornchen Toback genommen, hab ich gestern wieder den Anfang gemacht;
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denn eine so eingewurzelte Gewohnheit ganz aufzugeben, könnte doch
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gefährlich seyn.
23
An meines lieben Pathchen Geburtstag reiste der liebe
D.
Lindner ab nach
24
Wien, an dem ich einen guten Haus- und Leibartzt verloren, und der sich hier
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beynahe seiner alten Mutter zu Liebe selbst aufgeopfert. Sie trieb ihn selbst fort
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oder gab ihm vielmehr seinen Abschied, ohne den er sie nicht verlaßen haben
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würde; und ohngeachtet ihr Gedächtnis so geschwächt, daß sie fast beynahe
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nichts von dem weiß, was sie gethan hat und um sie vorgeht, so wurde diese
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Idee seiner Abreise niemals schwankend, sondern erhielt sich unverändert in
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ihrem Sinn. Ein gantz außerordentlich Phänomen in meinen Augen. Ich kann
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Ihnen nicht gnug sagen, liebster H. was für ein reifer, edler Mensch aus diesem
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Mann geworden. Ich hielt seinen Entschluß so spät die
Medicin
zu studiren für
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eine neue Qvackeley oder Familienzug; aber nichts weniger als das. Sein Herz
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u Seele hängt an dieser Wißenschaft und weil er in Ansehung der Hospitäler
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nicht Befriedigung zu Berlin gefunden, ist er nach Wien gegangen. Wo er aber
36
die
fonds
herbekommt, weiß keiner u ich am wenigsten.
S. 83
Des Hofraths Sohn ist zu meiner großen Freude vorgestern nach Berlin
2
abgegangen zum Prof. Meierotto, wo er schon vor 2 Jahren hatte gehen sollen,
3
wegen eines kleinen Verscheels hat sich der Handel damals zerschlagen, und hat
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nun freyl. wider zusammen geknüpft werden müßen, da ich ihn nicht länger
5
behalten konnte noch wollte. Um diesen Endzweck zu erhalten, war freylich von
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meiner Seite unvermeidl. dem Faß den Boden auszuschlagen. Dieser junge
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verwahrlosete Mensch ist hier bei der Grosmutter erzogen u schon auf der Akademie
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gewesen; worauf ihn der Vater nach Hause nahm u ihn 2 Jahre umtreiben ließ,
9
die ihm mehr Nachtheil zugezogen als seine hiesige Erziehung. Etwas
10
französisch war das einzige was er dort gelernt hatte. Hier muste ich von
Declini
ren u
11
Coniugi
ren wider anfangen, und habe mich 9 Monathe fruchtlos geqvält und
12
in hundert Sorgen seyn wegen meiner eignen Kinder.
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Daß mein Hänschen den ganzen August auf dem Lande zugebracht, hab ich
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Ihnen gemeldet. Da 4 Wochen um waren setzte ich mich selbst auf die Post,
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bezahlte bis Eilau, hatte aber nur nöthig bis Mühlhausen zu fahren, wo ich
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Gelegenheit nahm und in Graventihn erschien eben da man den Honig brach.
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Bartholomäi kam wider mit Michel zu Hause u fand meine Marianne,
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Pathchen bettlägericht am Ausschlage. Vor Freude den Bruder zu sehen stand sie auf
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und hat die Pocken, denn dafür wurden sie von allen erkannt, im Herumgehen
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überstanden. Sie können nicht glauben, wie viel Vorwürfe ich mir gemacht, daß
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ich ihr nicht wie den andern Geschwistern das
Beneficium
der Einpropfung
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angedeyen laßen; aber die Schuld hat nicht an mir gelegen, sondern der
D.
23
Brodthag versprach mir immer von selbst zu kommen so bald er gute Materie hatte.
24
Nun hoff ich, daß es überstanden seyn wird. Man hielt sie anfängl. für
25
Steinpocken; aber jedermann erkannte sie nachher für die rechten. Ein paar Mahlchen
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im Gesicht hat sie zum Andenken behalten und zum Beweise. Eine an den Füßen
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hat erst seit kurzem aufgehört zu schwären. Das liebe Mädchen kam mir ohne
28
Hebamme auf die Welt, lernte gehen ohne Gängelband (welches bey keinem
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andern Kinde erreichen konnte) bekam Zähne ohne die geringste
30
Ungemächlichkeit, und eben so die Blattern. Aber an Lernen ist noch nicht zu denken, und
31
darin ist sie noch weiter zurück als ihre Vorgängerin. Meine älteste
Lisette
32
Reinette
scheint ein wenig Gehör u Lust zur Music zu verrathen u spielt schon
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einige Bachische
Sonaten
– Aus einigen Caricaturen von Silhouetten sollt
34
ich auch etwas Anlage zu Zeichnungen vermuthen; ich kann aber nichts zur
35
Erziehung meiner Kinder anwenden, und die Mutter ist auch nichts im stande
36
von ihrer Seite beyzutragen, und wie viel selbige auf Töchter u die ersten Jahre
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überhaupt wirken kann, davon hab ich leider! Erfahrung bekommen. Doch
S. 84
auch meine liebe seel. Mutter war im Grunde auch nur eine
Hausmade
, die
2
weder vom Umgange noch Erziehung wuste u wie meiner Kinder ihre
3
ehrlich und unermüdet arbeitsam war, bisweilen auch zur Unzeit sparsam und
4
arbeitsam.
5
Den 7
Sept.
holte HE Kr. R. Deutsch wider meinen Sohn nach Graventihn
6
ab um ihn vermuthl. den ganzen Winter dort zu behalten. Ich bin also
7
nunmehr in einer zieml. Einsamkeit. Er ist dort gut versorgt und hat einen
8
Hofmeister Namens Scheller, der ein naher Blutsfreund des berühmten
9
Schulmanns ist, von dem er
f
lernen kann. Daß er den 4
Dom p Trin
confir
mirt
10
worden, hab ich Ihnen schon geschrieben.
11
Den letzten Sept. begegnete ich noch meinen alten Freund
Lauson
unter den
12
Speichern, da ich nach der Stadt lief und er nach seinem
Bureau
eilte. Ich
13
wurde auf einmal gewahr, daß er übel aussah. Er klagte über Kolick u daß ihn
14
Pomerantzentropfen nicht geholfen. Rhabarber, eine Abführung empfahl ich
15
ihn. Poßen! morgen ist es beßer, sagte er mir – Ey Zeit haben zum Einnehmen!
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Ich schrie ihm noch nach: Ey
wenn der Tod komt
– den Morgen drauf war
17
er nicht mehr im
Bureau,
ich besuchte ihn noch denselben Tag und die beyde
18
Tage drauf. Den 4
huj.
war er tod gefunden worden des Morgens um 6 Uhr
19
auf seinem Nachtstuhl neben dem Bett, gestützt mit der Hand am Ofen.
20
Nuppenau hatte noch dieselbe Nacht bis 4 Uhr gewacht. Nach seinem Tode hat man
21
weder Hemd noch Laaken gefunden. HE Kr. Hippel sorgte für alles u ich
22
muste mich auch ihm zu Gefallen des Nöthigen in Ansehung seiner
Casse
p
23
annehmen – auch seinen Tod in den
Hartungschen Zeitungen
anmelden,
24
welches die ersten Zeilen sind die ich je geliefert – und ihn den 6 des Morgens
25
um 6 Uhr in Rathswagen mit ihm im ersten paar nach dem Neuen Kirchhof
26
begleiten. HE Münzmeister folgte in seinem Wagen mit dem
Banco-Director
27
Ruffmann.
Ersterer weil er einen Tisch bey ihm gehabt u letzterer weil er noch
28
den Sonntag vorher in Gesellschaft Hippels den letzten Spatziergang nach den
29
Huben gethan hatte. Ich muste folgen ohngeachtet der bereits erhaltenen
30
Dispensation
weil
Jacobi,
bey dem ich als Leichenbitter war, Zahnschmerzen hatte
31
u er auch bey ihm Mittwochs einen Tisch gehabt. Nach seinem Tode hat er noch
32
in der Lotterie so viel gewonnen als die Leichenkosten betragen; in der
33
Registratur des gantzen Magistrats ist aber kein
Instrument
der
Donation
seiner
34
Bibl. noch eine Verlautbarung darüber zu finden. In den Zeitungen wurde sein
35
Tod zugl. mit dem Leichenbegängnis des vorigen
Gouverneurs
angekündigt.
36
Man hat es auch in unser
raisonirendes Verzeichnis
gerückt, aber in
37
beyden verstümmelt, von dem ein Blättchen beylege
pour la rareté du fait,
weil
S. 85
ich kaum glaube, daß Sie schon eins werden gesehen haben, ohngeachtet fast
2
alle unsere
gra
duirte u. außerordentl. Gelehrte u Liebhaber daran arbeiten.
3
Verzeyhen Sie mein kahles Geschwätze, liebster Gevatter, Landsmann und
4
Freund; selbst mit meinem Lesen geht es nicht mehr wie sonst und will nicht von
5
der Stelle. Ich habe so viel Bücher zusammen geborgt, daß mir selbst vors
6
widergeben Angst wird, und es will nichts schmecken, nichts haften, nichts
7
fruchten. Auch dieser einsame Winter –
8
Eben jetzt vernehme, daß der liebe
Kreutzfeld
auch in letzten Zügen liegt;
9
ich kann nicht ausgehen, und er will seine eigene Eltern nicht einmal
sehn
,
10
sondern hat nach seinem Halbbruder, gewesnen
Conrect.
u jetzigen Organisten
11
in Neuhausen geschickt, mit dem er eine sehr herzl. Freundschaft gehalten, und
12
welcher seine einzige Zuflucht war. Den 16 May war sein letzter Besuch in der
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Kutsche, weil er nicht mehr im stande war so weit zu gehen. Meine Besuche
14
wurden auch immer sparsamer, und ich hatte beynahe den Vorsatz mich seiner so
15
zu entschlagen, wie er mich zu vergeßen schien. Vorigen Sonntag vor 8 Tagen
16
war ich willens mich nicht aus dem Hause zu rühren, sondern Briefe zu
17
schreiben. Das Schicksal trieb mich den ganzen Tag wie einen Kräusel herum. Im
18
Vorbeygehen werd ich auch
gezogen fast
wider meinen Willen bey ihm
19
anzusprechen. Ich fand ihn wider Vermuthen zu Hause, weil er sonst immer seine
20
Eltern zu besuchen pflegte, auch es damals thun wollte. Er kam mir einer Leiche
21
ähnlicher vor – und ich hatte das vielleicht eingebildete Vergnügen ihn ein wenig
22
durch meine wilde Geschwätzigkeit aufzumuntern.
Me Courtan
beklagte sich
23
immer so oft wir uns sahen, daß sie gar nichts von ihm wüste. Ich gab ihr den
24
Rath ihm u mir nachzuahmen und sich nicht weiter um ihn zu bekümmern,
25
damit sein Verlust desto leichter würde. Machte ihm deßhalb Vorwürfe und weil
26
die Witterung schön war, drung ich darauf daß er noch
heute
zu ihr fahren
27
sollte. Er versprach es morgen gewiß zu thun. Des Hofr. Brief wegen seines
28
Sohns Abreise setzte mich in neues Feuer; unterdeßen lief ich doch des Abends
29
noch bey
Me Courtan
an, wo ich ihn auch wirkl. fand, hielte mich aber nur eine
30
kleine Stunde auf u bedauerte beynahe den armen Patienten in die Versuchung
31
geführt zu haben. Er soll sich um die Schloßbibl. ungemein verdient gemacht
32
haben daß alle bisher dort liegende und vermodernde Urkunden von ihm
33
durchgegangen und in Ordnung gebracht worden. Dieser kalte anhaltende Fleiß ist
34
seine letzte Arbeit gewesen und weil er damit so sehr gegen mich zurückhaltend
35
zu seyn schien, wurd ich es auch gegen ihn. Eben nun hatte er eine kleine
36
Handschrift über den Ursprung des Preuß. Adels in Druck geben wollen er war
37
aber im Begrif aus Verdruß über den Verleger alles zurück zu nehmen, und ich
S. 86
hatte ein doppeltes Intereße dies zu verhindern. Der Anlaß war eine kleine
2
Abhandl. des Ex-Ministers Braxein, unter dem Titel:
Historisch-
3
genealogische bisher ungedruckte Geschlechts Nachrichten der alten hochadl.
4
ostpr. National Familie von Br.
Prof Kraus, der bey ihm speiste von dem
5
Eßen was ihm seine Eltern tägl. zuschickten und welche Einrichtung ich auch zum
6
Theil zum Besten beider bewirkt hatte, lobt mir sehr die Laune u Gründlichkeit;
7
und komt selbige heraus, so werde auch ein Exempl. für Sie beylegen durch
8
Hartknoch. Er soll ungemein an der alten Geschichte von Preußen gearbeitet
9
haben und ich wünschte daß Kraus diesen Nachlaß erbte, weil er auch das
10
historische Fach sich jetzt ausersehen.
11
Dom. XIX.
den 26.
12
Nun, liebster Gevatter Landsmann und Freund, bin ich erst wider im stande
13
fortzufahren. Kreutzfeld lebt noch, ein Blutspeyen hat ihn dem Tode so nahe
14
gebracht; er soll sich aber schon wider erholen und ich habe noch Hofnung, daß
15
er meinen Sohn als
Decanus
unter
D. Orlovius
medicinischem
Magist
16
Rectorat einschreiben wi
ll
rd; doch wie Gott will. Dennoch habe ich einen
17
Todtenbrief aus Lübeck von der Wittwe meines alten Freundes Karstens
18
erhalten, der meinen Garten noch mit Obstbäumen neuerlich geschmückt, dem aber
19
wol kaum ein längeres Leben zu wünschen gewesen weil er nach den heftigsten
20
Gichtschmerzen an Händen u Füßen zuletzt an der Epilepsie sich vermuthlich
21
erschöpft.
22
Vor einer halben Stunde übersendt mir
Me Courtan
Naßir u Zulima
und
23
vermuthet Sie zum
Verf;
ich hingegen auf unsern
Jacobi
in Düßeldorf. Dem
24
sey wie ihm wolle, so haben mich die Bogen erqvickt.
25
Ich habe auch seitdem einen Brief aus Riga erhalten, in dem mir Hartk. die
26
glückl. Ankunft seiner Familie meldet, und wegen des
Monboddo
u Ihres
27
Stillschweigens deshalb in Verlegenheit zu seyn scheint. Nach dem Meß
catalog
28
ist er aber nach meinem Wunsch wirklich fertig geworden.
29
Ich weiß daß meine Briefe kaum eine Antwort verdienen – unterdeßen angt
30
mich doch nach guten Nachrichten von Ihnen und Ihrem Hause. Ich weiß daß
31
ich noch eine Antwort auf die liebreiche Nachricht meiner verehrungswürdigen
32
Frau Gevatterin schuldig bin; ich hoffe daß Sie mit dem Äußerlichen nicht so
33
genau und mein Stillschweigen dafür was es wirklich ist, auslegen wird.
34
Uebrigens wünsch ich daß alle die Schwächlichkeiten, welche mit dem Geschenk einer
35
Tochter verbunden gewesen, durch den kleinen
Emil
glücklich und völlig
36
gehoben seyn mögen. Gott seegne, Vater, Mutter, Kinder und Pathchen!!!!
S. 87
Ohngeachtet ich von den kümmerl. Stunden oder Viertelstunden mit des
2
Hofr. Lindners Sohn erlöst bin; so fehlt es doch nicht an Schaarwerk. In
3
Abwesenheit meines Sohns muß seine Stelle vertreten bey einem seiner jungen
4
Freunde, Raphael Hippel, einem nahen Blutsfreunde unsers
5
Oberbürgermeisters, deßen Freundschaft je älter desto kräftiger wird – und er so wol als
6
jedermann findt an dem wahren
Raphaelsgesicht
dieses Knabens Wolgefallen.
7
Mit meinem Hill der meine älteste Tochter im Spielen auf dem Clavier
8
unterrichtet und wie es scheint mit sehr guten Fortgang lese ich jetzt den Brief an die
9
Römer nach Koppens Ausgabe in Vergl. der Seilerschen und Bahrdtschen
10
Uebersetzung. Wir haben heute das dritte Kapitel angefangen. Wie sauer mir Briefe
11
werden, ist ihnen anzusehen – und dem ohngeachtet meiner laconischen
Diät
und
12
unverschämten Nachläßigkeit kann ich mit Schreiben nicht fertig werden, wär
13
es auch an meinen Sohn u Scheller in Graventihn – und immer in
14
Angelegenheiten, wo ein Muß und Pflicht zum Grunde liegt. Schon Jahre lang hab ich es
15
mir zum Gesetz aufgelegt, ohn ein ausdrücklich Geschäfte keinen Schritt in
16
jemandes Hause zu thun – ausgenommen daß ich beynahe alle Woche einmal bey
17
Hippel speise. An Ueberlauf fehlt es mir Gottlob auch nicht. In einer solchen
18
Lage können Sie sich kaum vorstellen, was für ein Labetrunk – was für ein
19
kühlendes Waßer – was für ein glühender Wein mir ein Brief von Ihnen
20
besonders, jedes Andenken Ihrer Freundschaft, jedes Product Ihres Geistes und
21
mit welchem Wolfshunger ich dran schmause. Meine Enthaltsamkeit zu
22
urtheilen ist Mistrauen, Unvermögenheit bisweilen auch wegen ihres Umfangs
23
unbestimmtere Begriffe, und wahrer Genuß an Verschiedenheit und
24
Mannigfaltigkeit des Geschmacks.
25
Ich sehe also schon der Fortsetzung Ihrer hebräischen Poesie entgegen und
26
erwarte von Ihrer alten Freundschaft den Vorzug einer Ihrer ersten Leser und
27
Gäste zu seyn.
28
Garvens Beurtheilung von Kants Kritik habe noch nicht gelesen. Daß sie sich
29
einander nicht verstehen würden, hab ich schon aus dem Briefe den er durch
30
Spalding an ihn schrieb, absehen können. Er liest jetzt über die philosophische
31
Theologie mit erstaunenden Zulaufe – arbeitet wie es scheint an der Ausgabe
32
seiner übrigen Werke und
confer
irt mit M. u Hofprediger Schultz der auch
33
etwas über die Kritik schreibt.
34
Aus Morungen erhalte bisweilen Grüße, aber keine Einl. Das Gewitter hat
35
auch dort eingeschlagen, wie wir hier die Tragheimsche Kirche verloren und der
36
seel. Lauson entdeckte kurz vorher einen
Leichenstein
, den man verkauft hatte
37
mit folgender Aufschrift:
S. 88
Hier lieg u schlaf ich Jacob Klein
1.
im Bett von Kalk u Steinen
2
Nebst Weib
2.
u Kind
3 4
daß uns ja nicht wer stöhr in unsrer Ruh
3
Sonst wird ihm Schrecken Furcht u Angst die Augen drücken zu
4
Du Jesu rühr uns nur, wenn Du wirst zum Gericht erscheinen.
5
Die Zahlen weisen auf die Namen u Familien umstände, die weitläuftig
6
angeführt waren von den 5. Mitbegrabnen. Er war ein Vater des berühmten
7
Naturforschers in Danzig. Der Urältervater ist der erste luthersche Erzpriester in
8
Marienwerder u Luther Schüler gewesen. Sein Vater Prediger zu Schonberg
9
hat die
formula
Concordiae
unterschrieben. Die Großmutter hingegen eine
10
Enkelin des Saml. Bischofs Mörlin. Der Stein war an einen Steinmetzen in
11
meiner Nachbarschaft verkauft.
12
Empfehle Sie u die Ihrigen wie mich selbst u das Meinige Göttlicher Gnade
13
u Liebe u ersterbe Ihr alter
14
Joh Georg Hamann.
Dem Brief lag wahrscheinlich ein Zettel von Hamanns Hand bei. Provenienz: Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 252.
Bisherige Drucke der Vorderseite:
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VI 354 f.
Johann Georg Hamann: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Josef Nadler. 6 Bde. Wien 1949–57, IV 451.
Auf der Vorderseite befindet sich ein Entwurf oder eine korrigierte Reinschrift für den Nachruf auf Lauson.
480/25
Herr Joh. Friedrich Lauson starb allhier den 4
Oct.
des Morgens
26
frühe nach einer dreytägigen Krankheit eines eben so unbemerkten und
27
gemächlichen Todes, als sein
Pfad durch Leben
* gewesen war.
28
Unserm
Dem ganzen Publico ist seine unbestechliche
29
Rechtschaffenheit und sein pünctlicher Dienst- und
Pflichteifer,
bekannt
als
30
Einnehmer bey der
f
Licent-Plombage
bekannt gewesen. Seine Treue,
31
Sagacität, Talente und Einfalle machten ihm zum Liebling seiner
32
wenigen vertrauten Freunde. Bey sehr entschiedenen Anlagen und
33
Neigungen zu einer größeren Rolle des Glücks,
lebte und starb
hat unser
34
preußische Diogenes
mit
in einer seltenen Einförmigkeit und,
in
S. 481
einer
ächt-antiken Apathie und Armuth gelebt. Er war geboren den
2
15
Oct.
1727. und hat dem Magistrat seiner Vaterstadt seine zahlreiche
3
Bibliothek vermacht.
In a
Alle seine Bücher waren inwendig mit
4
dem Holtzschnitt eines
Bienenstocks
bezeichnet, welcher das Motto
5
hatte:
Sic Vos non Vobis
– und zur Ueberschrift:
DELICIAE.
6
LAVSONIAE. DVLCIORI. PATRIAE. DICATE. MDCCLXVIIII.
7
*
secretum iter et fallentis semita vitae Hor.
Auf der Rückseite ist ein Buchtitel notiert sowie ein kurzes Exzerpt, außerdem eine Kassennotiz:
-1/9
Zu seiner
Casse
haben die 20 rthl. Gehalt u 31
gl.
von diesem
10
Päckchen beygelegt werden müßen.
11
Das Rad des Schicksals oder die Geschichte des Tchoangsees Von
12
Siegmund Freyherr von Seckendorf. Deßau u. Leipzig 783. S. 172. kl. 8
o
13
Der Ort unsers Aufenthalts ist der Schauplatz eines
14
immerwährenden Kampfes – zwischen
Wollen
u.
Können
S. 22.
15
Lao-tsee = das alte Kind. Kap.
IV.
Wo bin ich?
Provenienz
Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 250–251.
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VI 351–355.
ZH V 82–88, Nr. 716.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
84/9 |
Dom p Trin |
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: Dom. p. Trin. |
85/9 |
sehn ]
|
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: sehen |
86/23 |
Verf; ]
|
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: Verf., |
88/9 |
formula |
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: formulam |
480/29 |
Pflichteifer, ]
|
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: Pflichteifer |
481/14 |
Können |
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: Können |
481/14 |
Wollen |
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: Wollen |