710
69/23
Kgsberg den 29
Aug.
83.
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Herzlich geliebtester Freund,
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Mein ernster Vorsatz war Sie vorgestern, an meinem 54sten Geburtstage,
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wegen meines unverschämten Stillschweigens um Vergebung zu bitten, und es
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sind wider bereits ein paar Tage über diesen Termin verfloßen, den ich mir lange
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voraus als den spätesten ausersehen hatte –
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Ich und mein ganzes Haus wurde den 1
Julii
82. mit Geschenken erfreut, die
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HE Hartknoch aus der Schweitz von Ihnen mitbrachte für mich und meine
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Kinder. Ihr Kupferstich hangt über meinem Bett und erinnert mich täglich
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Ihrer – und Ihr
P. P.
ist mir ein
monumentum perennius
als eine silberne
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Schaumünze; aber das Uebermaas Ihrer
sonderlichen
Liebe schlägt mich
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nieder und unterdrückt mich, weil Ihre und Ihrer Freunde gute Meinung gar
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kein Verhältnis zu meiner gänzl. Erschöpfung aller Geistes- und Seelenkräfte
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hat, an der ich seit Jahren lang arbeite ohne das Ende oder einen Ausgang zu
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meiner Beßerung
en tout sens
absehen zu können. Hemans des Esrahiten
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Unterweisung von der
Schwachheit der Elenden
ist ein wahrer Spiegel meiner
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traurigen Gestalt.
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Daß Sie samt mir den Lästermäulern nicht entgehen würden, war leicht zu
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errathen, ich glaube aber, daß wir Beyde der
δοξης και ατιμιας
ziemlich gewohnt
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und
gegenseitige
Versuchungen abgehärtet sind, auch unsere Einigkeit im Geist
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mehr befördert als geschmälert sein wird.
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Den 2ten Theil des
P. P.
habe den 21
Jun. c.
(vielleicht vom Verleger)
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gleichfalls erhalten und daraus ersehen, daß nicht nur noch eine Fortsetzung sondern
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auch ein anderes Werk unter einem eben so vielecktest geschliffenen Titel zu
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erwarten steht. Ob aber gleich weder das
Ganze
– noch ohne das
Ende
deßelben
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den
Ton
zu beurtheilen im stande bin; so lebe doch der guten und festen
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Zuversicht, daß die Arbeit Ihrer Autorschaft im HErrn und Seiner Liebe Frucht
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bringen, und die evangelische Kraft und Weisheit sich gegen jüdischen Anstoß und
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griechische Thorheit auch in den Kindern Ihres Geistes – ich meine Ihre
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erbauliche und wolthätige Schriften – gerechtfertigt werden wird. Freylich sind
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Schmeltzen und Verhärten Würkungen Eines und Deßelben Feuers: so wie es
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die Zeichenthat eben deßelben Gottes war, daß Gideons Fell allein bethaut
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wurde und die ganze Erde trocken blieb; hingegen sein Fell trocken und auf der
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ganzen Erde Thau war. Warum necken Sie also liebster L. meinen Todtenschlaf;
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vielleicht kann auch diese Verwesung, in der ich mir selbst anstinke zur Ehre
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Gottes gereichen. Laßen Sie mich aus eben dem
Glauben
, der die ganze Welt
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redseelig macht, daß des Bücherschreibens kein Ende ist, stumm seyn und
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schweigen und mein Leid in mich freßen, bis Seine Stunde komt, auch meinen Mund
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aufzuthun und mein Herz zu erweitern.
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Hieher gehört auch meine äußere Lage, welche meinem natürlichen Gange zu
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genießen und auszutheilen ziemlich Gewalt anthut. Gottlob! bin ich
ohne
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Schulden
, aber um dies Glück zu erhalten muß ich mit mehr Ängstlichkeit
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leben, als ich von Jugend auf gewohnt bin. Mein Gehalt ist 300 Rthlr, woran
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ich durch den lezten Salarien-Etat nichts verloren ohngeachtet meiner
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gegründeten Furcht, daß es mir wie andern und Beßern gehen würde, denen unser
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Salomo vom Norden ohne Gnad u Barmherzigkeit gestrichen. Das
einzige
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Emolument
meines Postens war mein Antheil an einer gewißen Einnahme,
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welche die Schiffer unter dem Namen von
Fooi-
(Bier) Geldern für die
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Zollbedienten zahlen müßen und womit ich vornemlich meinen Holtzbedarf bestritt.
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Auch auf diese
(sit venia verbo)
Biergelder liegt ein königl. Beschlag der
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diese kümmerliche
Ressource
uns entweder ganz entziehen oder vermuthlich
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sehr mindern wird. Ich habe dies Frühjahr dem Himmel sey Dank! mein
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zweites Hau
s
s verkauft, aber beyde unter der Hälfte des drauf gegebenen Capitals.
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Nun bleibt mir noch ein einziges von meinem Erbtheil übrig, darüber ich die
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Aufsicht fremden Leuten überlassen muß, weil ich gar keinen Menschenverstand
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zu dergl. practischen und ökonomischen Angelegenheiten besitze.
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Mein Lesen ist also blos ein Betäubungsmittel meiner langen Weile, und der
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gefährlichste Dünger für das Unkraut meines hypochondrischen Bodens. Bücher
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sind mir lieber wie meine Gesundheit, und mein Kopf ist wirklich so schwach,
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daß ich blos beym unmittelbaren Lesen einigen Genuß habe, so bald ich aber ein
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Buch zu mache, kaum mehr als den allgemeinsten Eindruck meines dabey
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gehabten Geschmacks übrig behalte.
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Weil ich beynahe nichts selbst zu kaufen befugt bin; so wird mir freylich das
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Fuimus Troes
– durch die Mildthätigkeit meiner wenigen Gönner und Freunde
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vom Schriftstellerorden auf die schmeichelhafteste Art, so zu sagen, unter die
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Nase gerieben. Ich schäme mich daher nicht unsern
lieben Pfenninger
an
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die Ergänzung seiner Sammlungen zum christl. Magazin zu erinnern, da er
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mi
ch
r bereits die 2
ersten Bände
und das
erste Heft des 3ten Bandes
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verehrt. Von den Predigten und Predigtfragmenten habe des letzten Bändchens
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2te Abtheil. doppelt erhalten, den 31
Julii
aus dem Dengelschen und den 15
huj.
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aus dem Hartungschen Buchladen. Weil ich die mir eigenen Bücher
coll’ amore
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zu lesen, selbige gern gebunden haben mag; so wird dies Andenken meine nächste
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Sonntagslection seyn. Melden Sie dies Ihren beyden Freunden, damit Sie
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wißen, daß ich nicht
in petto
unterlaße, was ich weder
schriftlich
noch
thätig
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erwidern kann.
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Ich freute mich, liebster L. noch gestern Abend über Ihren
zehnten
Brief im
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theologischen Briefwechsel eines Layen
, um den ich mich aus
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Vorurtheil nicht bekümmern mögen; habe aber recht viel
Weide
in den
Con-
und
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Dissonanti
en der gesammelten Stimmen und Gesinnungen gefunden; keine
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Bosheit, sondern eher heilige Einfalt philosophischen Aberglaubens in dem
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ehrlichen
Herausgeber
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Wir erwarten hier Garvens Recension, die in den Göttingsch. Zeitungen
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verstümmelt seyn soll, über Kants Kr. nach ihrem vollen Innhalt in der Allg. Bibl.
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Auch unser Hofprediger
M.
(nicht Oberhofprediger
D.
) Schultz wird auch
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Etwas darüber ausgeben, ob Aus- oder Widerlegung weiß ich nicht. Was sagen
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Sie zu M. Jerusalem? Je mehr ich lese, desto weniger ich versteh. Die Schuld
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liegt vermuthlich an mir. Daran scheint er mir aber ganz Recht zu haben, selbst
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ein Jude zu bleiben und seine Brüder beym Glauben ihrer Väter zu erhalten.
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Hab ich aber auch nicht Recht gehabt zu behaupten, daß
Juden
und
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Philosophen
am wenigsten
wißen
was
Vernunft
und
Gesetz
ist, und diese tiefe
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Unwißenheit der wahre Grund ihrer Anhänglichkeit ist?
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Gewiß wird mein lieber Landsmann, Gevatter und Freund Reichardt auch
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bey Ihnen eingesprochen und sich und Sie meiner erinnert haben. Geben Sie
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Ihm Ihren Seegen zu seiner glücklichen Heimkunft mit. Kaufmann hat mich
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dies Jahr zweymal mit der Nachricht erfreut, seine Ruhe als
Medicus in
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Neu Saltza
gefunden zu haben.
Me.
Hartknoch, die hier Kindbett gehalten,
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erinnerte sich seiner mit vieler Erkenntlichkeit, und besuchte mich gestern in
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Gesellschaft von zwo ihrer Schwestern und ihrer kleinen Tochter, die eben so viel
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Hofnung giebt als ihr dortiger Stiefbruder, den Gott zur Freude und Stütze seines
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rechtschaffnen
Vaters seegnen wolle!
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Einer meiner ältesten Freunde schickte zu Ende des Jänners seinen Sohn zu
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mir in
Pen
sion, den ich gern noch vor dem Winter weiter zu befördern wünschte,
17
weil meine Kinder zu viel dabey einbüßen und ich keinen Lehrer für
S
sie
18
halten kann. Unterdeßen hat Gott auf eine wunderbare Art für meinen einzigen
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Sohn gesorgt, der diesen Sommer eingeseegnet ist und zu meiner großen
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Zufriedenheit sich der
Medicin
widmen will. Er hat einen Freund seines Alters an
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dem einzigen Erben eines sehr liebens- und hochachtungswürdigen Mannes
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HE Kriegsrath
Deutsch
gefunden, der unlängst aus Potsdam sich 4 Meilen
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von hier auf einem sehr angenehmen und beträchtl. Landgut
Graventin
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angeseßen. Mein Johann Michael hat sich einen ganzen Monath daselbst
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aufgehalten, und ich habe selbst ihn vorige Woche abgeholt, doch mit der Bedingung
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ihn auf längere Zeit zur Aufmunterung und Gesellschaft ihres Sohns den
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Eltern zu überlaßen, die einen geschickten Hofmeister an einem Verwandten des
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berühmten
Schellers
von Brieg, gleiches Namens haben. Auch diese häusliche
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Veränderung ist mit manchen Zerstreuungen verknüpft, die meinen wüsten
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Kopf noch wüster machen.
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Ich hoffe also, liebster L. daß Sie mir Beydes die Unverschämtheit meines
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Stillschweigens so wol als gegenwärtige
s
n Gewäsches und
Radotage
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vergeben werden. Gnade, Liebe und Friede
walte
über Sie und die Ihrigen!!!
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Gesetzt daß wir uns hier nicht einander sehen; so mögen unsere Söhne einmal das
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Andenken unserer Freundschaft feyern.
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„Ihr habt die Salbung von dem der
heilig
ist und wißt alles“ – beßer wie
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ichs zu sagen weiß mit welcher Innigkeit ich an allem, was Sie angeht und zu
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Ihrem Wohl gehört Antheil nehme, wo nicht immer im Buchstaben oder
2
Schattenriß, doch desto mehr im Geist und Wesen. Mit dem herzlichsten Kuß und
3
Gruß bin und werde niemals aufhören zu seyn Ihr
4
ewig verpflichteter und ergebenster
5
Johann Georg Hamann.
6
Adresse:
7
An / HErrn
Johann Caspar Lavater
/ Helfer am St. Peter / zu /
Zürich
.
Provenienz
Zürich, Zentralbibliothek, Signatur: FA Lav Ms 510.275.
Bisherige Drucke
Heinrich Funck: Briefwechsel zwischen Hamann und Lavater. In: Altpreußische Monatsschrift 31 (1894), 115–120.
ZH V 69–73, Nr. 710.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
69/23 |
Aug. |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Aug. |
70/8 |
gegenseitige ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: gegen seitige |
71/29 |
Weide ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Winke |
71/32 |
Herausgeber ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Herausgeber. |
72/3 –4
|
Juden […] und Philosophen] |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Juden und Philosophen |
72/4 |
wißen ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: wißen, |
72/10 |
Neu Saltza |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Neu-Saltza |
72/14 |
rechtschaffnen ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: rechtschaffenen |