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Kgsberg. Am Charfreytage 83.

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Herzlich geliebtester Landsmann Gevatter und Freund,

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Endlich bin ich den 29 März mit einem Briefe von Ihnen erfreut worden, und

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habe erst diese Woche gedr. Einlage nach Morungen befördert zur Osterfreude.

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Gott seegne meinen kleinen liebsten Pathen für seinen Eifer und Antheil – und

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gebe guten und erwünschten Fortgang und Erfüllung der angekündigten Cur.

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„Wenn Du winkst, sind wir wieder da!“

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Ihr Stillschweigen hat mich freylich beunruhigt, theils Ihrer und der

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Ihrigen Gesundheit wegen, theils mag ich eine Ahndung gehabt haben, daß mein

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Geschmier eine sehr freundschaftliche Nachsicht nöthig hat, weil ich selbst nicht

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weiß weder was ich schreibe noch geschrieben habe und leider Ursachen gnug

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habe vor Misverständnißen bey mir u andern besorgt zu seyn. Ich bin weder im

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stande mich auf den Innhalt noch die eigentliche
Qvelle
der
verlornen
Winke

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in Ansehung Ihrer häuslichen Laune zu besinnen, und wenn es ja jene
Qvelle

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seyn sollte, die man vermuthet, wo von ich aber nichts mehr weiß; so sind die

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Gerüchte gegen
sie
selbige
noch nachtheiliger in diesem Stück. Desto mehr

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bewundere ich Sie, liebster bester Freund, daß Ihre öffentliche Unzufriedenheit

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weniger Einfluß auf Ihre einheimische hat, wie ich mir vorstellen können.

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Ich kann freylich nicht wie unser Freund
Krankheit
anführen, aber

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Hypochondrie und selbst nicht zu wißen, was uns fehlt, ist ein größer Uebel als

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Krankheit, und greift die Seele an. Mein Podagra ist diesen April aus

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geblieben; mein Kopf, meine Zunge und meine ganze Denkungskraft ist wie gelähmt.

S. 36
Ich besuchte heute unsern Kant, der ein sehr sorgfältiger Beobachter seiner

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Evacuation
en ist, und diese Materie ungemein und oft am sehr unrechten Ort

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widerkaut, daß man öfters in Versuchung komt ihm ins Gesicht zu lachen. Beynahe

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wäre es mir heute auch so gegangen; ich versicherte ihm daß mir die kleinste

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mündl. u schriftl.
Evacuation
eben so viel zu schaffen machte, als die seinigen
a

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posteriori.
Er schrieb mir ein langes
Billet
wegen der alten Grille, das

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Konxompax
aus dem
Thibetani
schen herzuleiten, die ihm gantz neu aufgestoßen

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war und die mir jetzt eben so lächerlich vorkomt als das Kursche oder Lettsche

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wegen der Ähnlichkeit des Wortes
Kunks
. Unser Hofprediger u M. Schultz

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arbeitet an einem Versuch die Kritik der reinen Vernunft aufzuklären u im

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verjüngten Maasstab zu bringen. Bin neugierig zu wißen was der Göttingsche

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Recen
sent zu den
Prolegomenis
sagen wird.

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Kennen Sie nicht den Verfaßer der Briefe über die Freymäurerey; ich bin

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noch nicht im stande seinen Plan zu
übersehen
.
Er spielt den Mediateur in der

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Tempelherren Sache, fast wie der Elihu im Hiob. Die letzte Hälfte ist zu trocken

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u die erste zu blühend.

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Das
Etwas, was Leßing gesagt haben
soll, machte mir einen

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vergnügten Abend, und ich wurde so überrascht auch eine Zeile auf mich zu finden, daß

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ich auf einmal zu lesen aufhörte – Ein paar Abhandl. aus dem Museo, aus

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denen ich gar nicht klug werden konnte, u die auch ihren Text wenig scheinen

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verstanden zu haben, veranlaßten mich nach diesem Blatt nachzufragen. Der

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jetzige
Calculator
Brahl hat seinen abgerißnen Umgang mit mir erneuert und

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durch ihn ist mir der Hartungsche Laden offen, weil er die dortigen Zeitungen

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schreibt u. an dem
raisonnirenden Bücherverzeichnis
was seit Jahr u

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Tag daselbst auskomt, arbeiten hilft. Wagner hat sich von Dängel getrennt, ob

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es mit letzterm allein gehen wird, ist noch sehr problematisch. Gefälliger und

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uneigennütziger ist er wenigstens und vielleicht werd ich auch seinen Laden mehr

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besuchen.


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heil. Abend
19. April

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Mit Sehnsucht erwarte den zweiten Theil der hebr Poesie. Den ersten habe

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Kriegsrath Scheffner und seinem Wirth Hippel zur OsterLectur vorgestern leihen

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müßen. Da ich das
Tauf Gebet u die
Cantate
nach Morungen geschickt, so

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werden Sie das mir zugedachte Exemplar nebst den übrigen Neuigkeiten ohne

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mein Erinnern mir durch die Post oder Hartknoch zukommen laßen. In

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Ansehung des ersten Wegs bitte noch einmal nur bis Halle zu
franqui
ren, weil ich

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immer besorge, daß ein gantzes
Franco
für Sie und mich verloren geht oder

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wenigstens keinem von beyden zu Nutz kommt.

S. 37
Hartknoch wird mit seiner Familie erwartet; ich habe in langer Zeit keine

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Antwort von ihm erhalten, ohngeachtet ich ihm einen ganzen Bücherkasten aus

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der Lilienthalschen
Auction expedirt.
Ob er damit nicht zufrieden oder ihm das

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letzte
Porto
zu stark gewesen, worinn Neumanns Einl. war, werd ich von ihm

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selbst erfahren.

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Daß ich seit den 27 Jänner des Hofr. Lindners Sohn in
Pension
habe, ist Ihnen

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bereits bekannt. Ich muß in einer Stube mit ihm u meinem Sohn schlafen. Die

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wenige Augenblicke, welche mir übrig bleiben, werden dadurch noch schmaller,

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und bin also den ganzen Tag belagert, mein armer Junge beynahe eben so.

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Was der König mit unserm
Etat
anfangen wird, weiß auch noch keine Seele.

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Von Reichard habe in diesem ganzen Jahr noch keine Zeile erhalten. Den

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Gerüchten zufolge werden wol seine Unterthanen das durch Hungersnoth wider

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einbringen müßen, was die Franzosen aus dem Lande gezogen. Mit dem
Iunius

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wird sich der Knoten auflösen.

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Wie geht es mit der Bertuchschen Ausgabe spanischer Dichter? Werden

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selbige herauskommen; den kleinen Betrag werde durch den Buchladen oder

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Hartknoch abmachen. Es war doch blos
Subscription
und das Geld darf doch

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nicht ehr als beym Empfang der Bücher bezahlt werden. Wenn die spanische

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Liebhaberey in Deutschland nicht größer seyn sollte, als in Preußen: so wird

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wol nichts draus werden.

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Was Sie mir vom bösen u gutem
Genius
schrieben – – –


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Am Sonntage
Misericordias Domini
den 4
May

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Sehen Sie wie lange dieser Brief liegen geblieben, und daß ich gar nicht mehr

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im stande bin die Feder zu führen. Hartknoch ist noch nicht hier. Den letzten

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Osterfeyertag wurde auf eine angenehme Art mit einem Exemplar der
Parerga

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historica
u einem Briefe des Schöppenherrn erfreut, den ich elend beantwortet

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habe. Reichard hat mich auch währender Zeit zu seinem Gevatter gemacht bey

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seiner Wilhelminchen. –

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Eben komt Hartknoch in mein Haus, ist gestern spät angekommen, wird

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Morgen Abends abgehen und mich noch frühe besuchen. Sein Ansehen ist

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erträglich; seine Frau
ist
in geseegneten Umständen, daher eilfertig selbige

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heimzuführen des bevorstehenden Kindbettes wegen; wird also nicht nach Weimar

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kommen können.

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Ich dachte, Hartknoch sollte etwas von der neuen Schrift wißen, die Sie ihm

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zugedacht haben, er kann mir aber auch nichts von ihrem Innhalt melden.

S. 38
Kennen Sie Ihren Recensenten des Maran Atha in der allgem. D. Bibl. Ich

2
habe selbige kürzl. gelesen. Werden Sie sich gar nicht um des
Nicolai
Geschmier

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bekümmern? Köhler hat mir in seinem Namen auch ein Exemplar zur
Collecte

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der Reisen
zugeschickt;
habe hier mit genauer Noth zusammengebracht, daß ich

5
auch eins erwarten kann. Ich hoffe, daß sich seine stoltze Wellen auch legen

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werden.

7
Ich habe wol keine Hofnung mehr, mich von meiner Lethargie zu
Kgsberg

8
erholen, eben so wenig bey meiner gegenwärtigen Arbeit an dem jungen

9
Menschen etwas auszurichten. Nur Schade, daß ich meine eigene Kinder

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darüber versäumen muß.

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Haben Sie, liebster bester Herder, Mitleiden mit meinem Zustande. Sie

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können sich nicht vorstellen, wie niederdrückend diese Unvermögenheit ist, und mit

13
welchem panischen Schrecken ich mich selbst
ansehe
.
Gott schenke Ihnen desto

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mehr Gesundheit und Freudigkeit zu allen Ihren Geschäften. Ihrer

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verehrungswürdigen Frau versichern Sie nochmals, daß ich weder mich besinnen

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kann auf das, was ich geschrieben, noch auf irgend einige
Qvellen
, als meine

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eigene Träume. Selbst antworten
werd
wollt ich, aber kann nicht; so sehr ich

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mich auch beym Empfang Ihres Briefs gefreut.

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Verzeyhen Sie diesen ungeschlachten Brief. Er ist ein treuer Abdruck meiner

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Verwüstung. Ich ersterbe unter den herzlichsten Grüßen und Küßen meines

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lieben Pathchens u aller Ihrigen von mir u den Meinigen Ihr

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ewiger Freund Hamann.


23
Adresse mit Lacksiegelrest:

24
HErrn / HErrn Herder / Oberhofprediger und / General-Superintendenten

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p / in /
Weimar
.

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fr. Halle

Provenienz

Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 246–247.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VI 330 f.

ZH V 35–38, Nr. 695.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
35/24
verlornen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
verlorenen
36/14
übersehen
.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
übersehen.
38/3
Collecte
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Collec
te
38/4
zugeschickt;
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
zugeschickt:
38/13
ansehe
.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
ansehe.