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den 3 März 83.

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Herzlich geliebtester Freund

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Gestern im Schlitten in Steinbeck gewesen – Seit 67 die erste Schlittenfahrt

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aufs Land, also eben so merkwürdig als Claudius Wallfahrt am Rhein.

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Währender Zeit hatte mich unser alte Freund Dorow besucht und bey meiner

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Zuhausekunft fand ich ein zurückgelaßenes Fehdebriefchen von ihm, worauf ich

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mich heute in aller Frühe persönlich stellte. Die Sache wurde bey einem

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Schälchen
Persico
beygelegt, und ich wünsche daß seine Zahnschmerzen es auch seyn

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mögen.

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Den 16 Jänner erhielt ich einen sehr feyerl. Besuch von ihm auf der Loge,

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wo
rinn
bey
er mir die glücklichen
Aspecten
mitgetheilt. Gott erfülle unsere

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Hoffnungen, die mir niemals so paradox geschienen. Wir nehmen hier alle mit

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warmen Herzen Antheil; und warten auf einen erfreulichen Aus- u Eingang.

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Sie sind im vorigen Jahr mit so viel Jeremiaden von mir bestürmt worden,

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daß ich mich ein wenig habe verpausten wollen, damit ich Ihnen nicht gantz

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meinen Briefwechsel vereckeln möchte. Seit meinem Neujahrsbriefe bin ich

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ruhig.
Altum silentium
ist für mich die beste Antwort. Man redt hier so viel

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von
Reduction
en u
Reformation
en, daß ich mich gar nicht dran kehre. Wüsten

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Sie etwas zuverläßiges u
interessant
es für oder gegen mich: so hab ich das

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Vertrauen, daß Sie mir einen Wink dazu von Selbst geben würden. Gott hat auf

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eine sehr angenehme Art das zu besorgende
Minus
ersetzt durch einen

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Pensionair
den ich seit dem 27
Januar.
in meinem Hause bekommen. Es ist der älteste

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Sohn meines alten Freundes des Hofraths Lindners in Mitau, deßen
Oncle

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der jetzige
Doctor Medic.
sich gegenwärtig auch aufhält seiner alten Mutter die

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letzte Oelung durch eine kindliche Pflege zu ertheilen. Ich liebe meinen

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Pflegsohn, wie Sie den Ihrigen. Kaum hatt ich diesen Brief angefangen, wie ich

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einen Besuch nach dem andern erhielt. Unter anderm führte mich Gevatter

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Jacobi
einen jungen Hamburgschen Kaufmann zu, der aus
Königs

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Petersburg zurückkomt, und den ich Ihnen anmelden muß. Er blieb bey mir, bis die

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Post beynahe abgehen sollte u es that mir sehr leid, diesen liebenswürdigen

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Mann nicht näher kennen gelernt zu haben. Sein Nahme war Ihres Pflegsohns

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Hänseler sehr ähnlich. Durch ein eigenes Schicksal hatte ich mein ganzes Haus

S. 33
zum
ersten mal
in die Comödie geschickt u ich war kaum Herr Licht zu

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verschaffen, weil meine pollnische Magd auch ausgegangen war.

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Vorgestern Abend brachte mir Friedrich einen halb holländisch halb

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französischen Brief von der Post, worinn mein alter Freund als
Capitain Lieutenant

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den 11
Febr.
auf dem Bord des Landschiffs von Oorlog
Utrecht
Abschied von

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mir nimmt. Sein Herr Bruder hat mir den Gefallen nicht erwiesen, mir den

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Tag da unser Vetter in See gegangen, anzugeben. Den Verlust des Päckchens

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bedaure
pro rata.
Wenn es nicht der letzte Wille gewesen, so soll der Verlust wol

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ersetzt werden.

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Am letzten Februar erschien der gegenwärtige
Calculator
Brahl mit seiner

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Frau bey mir zum Abendbrodt, nachdem er in 1½ Jahr u sie in einem gantzen

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Jahr nicht meine Schwelle betreten; und ich habe gestern mit meinem gantzen

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Hause den Abend bey ihm zugebracht.
Lindner
war auch unter dem Titel des

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fremden Herrn
bey
mitgebeten; am Ende fand es sich, daß der fremde

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Herr ein weitläuftiger Cousin der Wirthin war und zwar durch den Reifenstein

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in Rom. Auch dieser
aufgewärmte
Kohl
von Freundschaft ist nach

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meinem Geschmack; und ich verspreche mir einen vergnügteren u zufriednern

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Sommer, den ich mir kaum vermuthet. Auch dürfte vielleicht die Zerstreuung mit

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der häuslichen Arbeit in Verhältnis stehen. Der 2
te
April ist der
terminus fatalis

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meines Podagra
. Und so bin ich ein von langer Weile und Zerstreuung

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geplagter Mann; und ich vermuthe daß es Ihnen
ceteris paribus
ungefehr auch

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so geht.

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Den 15 Febr. war Gevatter Kanter kaum vom Postwagen gestiegen, als er

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mir eine
Silhouette
des
Raynal
nebst ein paar andern Kleinigkeiten zuschickte. Ich

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besuchte ihn den andern Tag drauf, erfuhr aber zu meinem Leidwesen, daß Sie

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sich einander nur einmal am dritten Ort gesehen, wo Sie ihm das Ehrenwort

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von
Aufwarten
übelgenommen und daß er sich
ohne seine Schuld

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vergehen müßen, dafür aber hatte büßen müßen, daß er Sie niemals zu Hause

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angetroffen hätte. Ich vergieng mich eben so unschuldig mit einem noch härteren

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Ausdruck gegen ihn, und hatte nicht Ruhe gleich zu Hause zu laufen, wo ich

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mich wirklich meiner Uebereilung überführen konnte, bin aber noch nicht im

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stande gewesen mich deshalb zu entschuldigen, weil wir uns einander seitdem

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nicht mit Augen gesehen. Seine Absicht ist bald wieder nach Berl. zu gehen.

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Die beyden ersten
Monathe
habe mit ebensoviel Zufriedenheit gelesen, als

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Kants Prolegomena, die vorige Woche angekommen aber blos für den Autor.

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Die doppelte Erscheinung der weißen Frau ist in der That eine
omineuse

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Widerlegung eines alten Aberglaubens, über den ich zufällig eine hiesige
Dissertation

S. 34
aufgefunden, die aber nichts in sich enthält. Mein großer Bücherkasten ist

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abgegangen, aber von Hartknoch noch keine Sylbe erhalten.

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Gottes Seegen nebst meinem Gruß und Kuß an Ihre liebe brave Frau – daß

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Sie eine fröliche Kindermutter werde! Auch Ihrem Jonathan empfehlen Sie

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mich; ein gleiches an
Castor
und
Pollux
B. u. G. Wenn Sie so fortfahren,

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hoffe ich daß Publicum und Kunstrichter Gnüge leisten
werden

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Muß schließen, wenn diese Einlage noch anlangen soll. Ich umarme Sie und

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ersterbe Ihr ewig verpflichteter Landsmann und Freund
Johann Georg Hamann.


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Eben stürmt mein ganzes Haus in die Stube; und haben sich über das

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Fündelkind
recht satt gelacht.
Sapienti sat.
Ich umarme Sie nochmals 

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in ihrem Namen.

Provenienz

Druck ZH nach der überlieferten handschriftlichen Abschrift Arthur Wardas. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 1.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VI 329 f.

Heinrich Weber: Neue Hamanniana. München 1905, 133.

ZH V 32–34, Nr. 692.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
32/13
wo
rinn
bey
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
wo|
rinn
bey
33/16
aufgewärmte
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
aufgewährmte
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omineuse
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
omineu
se
34/6
werden
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
werden.