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Ich weiß nicht, bester, liebenswürdiger Hamann, ob Christoph dieß Jahr

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noch wird Ihnen schreiben können, wenns so fort geht. Alle die

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Zubereitungen, Einrichtungen & die er auf seine anzufangende Haushaltung zu machen

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hat, ungerechnet, auch ungerechnet die tausenderlei Angelegenheiten, kleine u.

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große Geschäffte &. – hat er nun so viel mit freundschaftlichen Patienten in

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u. außerm Hause zu thun daß er sich kaum kehren kann. Die ganze vorige

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Woche war sein Weib krank, hatte stark Fieber, geschwollenen Hals,

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hartnäckige Verstopfung: keine Arzneien konnte sie nehmen u. die Klistiere die er

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ihr täglich
ge
geben konnten auch nur wenig würken. Seit gestern ists gleichwohl

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um vieles beßer – so daß er auch einen nothwendigen, lange verschobenen

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Ritt nach Zürch thun konnte, von wannen er etwa morgen zurückkommen wird.

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Erst seit Abgang des lezten Briefes von hier ist der Ihrige vom 22 Oct.

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angekommen – u. ist, wenigstens was mich angeht, beantwortet – denn für

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Ihre Güte u. Liebe kann ich nicht in befriedigenden Ausdrücken danken – muß

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mich begnügen mich stumm darob freuen u. wünschen u. streben zu können

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der Liebe edler Menschen würdig zu sein. Ihr letztes vom 29 Jan. nebst
Inlage

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ist nicht minder angekommen u. hat
den Nachgenuß der Hochzeit
freuden

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erhöhen u.
vermehren helfen
.

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Den zweiten Hornung (denn ich darf Ihnen keinen erheblichen Umstand

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von Chr. Hochzeitfeier verhalten) an einem reinen, stillen, heitern Tag, den

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Himmel u. Erde zu feiern schienen wurde Chr. mit Elisen in einem Dorfe

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2 Stunden von Baden durch Lavater getrauet. L. hielt eine herrliche Predigt

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im Geist der Liebe u. evangelischen Wahrheit – sprach als Priester des Herrn,

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nicht als Freund, Liebhaber des Menschen. Eine Reihe frischer froher

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Bauerjungen stunden um ein Gitter her vor ihnen u. beschatteten den Altar; diese

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u. einige Bauren des Dorfs u. zwei jungfräuliche liebe Geschöpfgen, Elisen

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Freundinnen – waren die einzigen sichtbaren Zeugen der heiligen Handlung.

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Die Kirche halb Catholisch, also mit allerlei wohlgemeintem doch simplem

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rührendem Zierrath versehen.
Die
Ein edles Crucifix hieng über ihren

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Häupten – Christophs u. Elisens als sie Hand in Hand vor dem segnenden

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Priester knieten – Grau war ihre beider Kleidung mit blauen Unterkleidern –

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beider Hüte grau – Lisettens Hut mit blauem Bande, einer Feder u. einer Rose

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geziert. In schwarzer Zürcherischer Kirchentracht saßen die zwei Jungfrauen

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auf der Seite – Ein Bruder von Elisen hatte sich ganz unbemerkt auf die

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Porkirche u. dann wieder herab fortgeschlichen. Einsam u. selig das N. Testament

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in der Hand brachte Chr. mit seiner Angetrauten den Tag zu. In der

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Dämmerung wandelten sie 3 Stunden bis Zürch, genoßen bei Lav. ein friedliches Mahl.

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Um 11 Uhr des folgenden Tages waren sie in Wint. vorm väterlichen

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Hause. In ihrer simplen Tracht giengen sie mitten durch ein neugieriges-

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unzähliges Volk unerkannt auf eine durch manche Amtsverrichtungen des alten

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Kauf
Statthalters u. Obmanns Kaufmann merkwürdige – zu der

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Mahlzeit gemiethete Zunftstube. Eine Menge wartender Gäste setzte sich nun zur

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Tafel. Außerordentlich frölich war alles: die Altväter, sonderlich der

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Schwiegervater,
Obervogt Ziegler
ein 74 jähriger Greis von ungemeiner Treue,

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Ordnung, Geradheit, Gesundheit u. Munterkeit waren recht sichtbar verjüngt.

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Lezterer sang seine alten Liedchen, zog den Kazenschwanz um den Tisch her.

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(Er faßte ein Frauenzimmer bei der Hand, diese wieder eine andere Person u.

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so sprangen 20–30 an einer Kette um den Tisch herum &). In Winterthur (wo

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ein vortreffl. Wein wächst) ists Sitte daß jeder Bekannte dem neuen Ehepaar

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ein paar Flaschen voll von seinem Gewächse verehrt. K. bekam von 300

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Personen; er wird ihn aufbewahren, u. wenn es ein Tag besonders verdient so

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wird er durch ein paar Gläsgen des Hochzeitweins gefeiert. Den folgenden

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Tag war hier ¾ Stund von Winterthur bei Altvater Patriarch Ziegler

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freundschaftliche Assemblee von 36 Personen der nähesten u. liebsten. Es war da

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Kaufmann Vater, zween Brüder u. eine Brudersfrau. Elisens Eltern, zwo

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verheirathete Schwestern, eine ledige Schwester,
zween Schwäger
(deren

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der eine Diakonus
Pfenninger
ist) u. zween Brüder, der eine holländis.

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Capitän der andere ein aus einem jungen Geistlichen aus Gefühl der

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Wichtigkeit u. Schwierigkeit des Predigamts gewordener Zimmermann. Ueberdieß

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Lavater, Schloßer u. einige – Gottlob, noch nicht weltberühmte Schweizer.

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Die Mahlzeit war stiller u. inniger froh als die gestrige. Daß die Musen
de la

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partie
waren, bedarf kaum erinnert zu werden. Es wurden interessante

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Geschenke gebracht, Mannshemden u. Kinderhemden, Flachs u. Spinnrad,

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Windeln u. Löffelein, Kämme, Trommeln, Mörser &. Der eine Zieglersche Bruder

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hatte Misthaken, Heugabel, Ofengabel, Dreschflegel, Axt, Rechen angeschafft,

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die Mutter und Schwester gaben Butterfäßer, Kochlöffel, Hackmeßer, Tischtuch,

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Zwehlen, zwanzigerlei unnennbares Küchengeräthe, welches alles ein Bruder

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von Chr. u. eine Schwester von Elise als Bauer u. Bäurin gekleidet

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hereinbrachten, u. ein meisterliches Drama spielten. Das lustigste war vielleicht eine

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Kuh welche im Namen einer ganzen Gesellschaft gekauft, mit einem prächtigen

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Kranze geziert u. so auf Latten die Treppen herauf in die Stube vor die ganze

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versammelte Gesellschaft gebracht wurde. Auf einem Bande rings herum

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stunden die Namen der sämtlichen Theilhaber: u. Verse von Lavater, welche

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er im Namen der Kuh (welche ohne Flatterie ein schönes 3 jähriges Thierchen

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ist) als eine Anrede an das ganze Auditorium vorlas: diese Begebenheit

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erzeugte manchen frohen Einfall, man machte der Kuh die Gegenvisite, trank

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ihre Gesundheit, machte Haufen Verse u. Versgen auf sie u.s.w. Sie ist

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würklich in guter Hoffnung u. mit dem
Anken
(d. i. Butter) hat ihre Herrschaft

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schon einigen lieben Freunden willkommene Geschenke gemacht.

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Selbigen Abend kam Kaufm. in sein Stübchen herauf, da stand ein

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nußbäumenes Tischlein, eine angezündete Lampe drauf u. eine luthrische Bibel

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in 4 Bänden aufgeschlagen um das vorlezte Cap. der Ap. Gesch. Dieß kam

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von einigen lieben nahen Freunden – rührte Chr. unendlich. Dieses

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Eheschlafstübchen
war
ist ein wahres Heiligthum. Die Porträts der liebsten wärmsten

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edelsten Freunde,
hin u. her
einige georgische u. chinesische Stücke, ein

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Raphael von Lips – eine Cenci von Raph. u. Lips – ein Begräbnis Christi von

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Ricci u. Cunego – ein Christus mit einem Kinde u. der Unterschrift Solcher

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ist das Reich Gottes (diese zwei sind auch Hochzeitgeschenke) ein Brutus –

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einige andere Christusbilder – u. dann eine Aussicht über eine der sanftesten,

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reinsten, lichtesten Gegenden – Felder u. Wiesen in der Nähe, weiterhin Wald,

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Weinhügel – alles von einem Halbzirkel von angenehmen Bergen
an

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eingeschloßen – an welchen sich alle Abend ein unvergleichliches Roth

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herumzieht – – Unaussprechlich wohl wars der ganzen Gesellschaft, welche sich nur

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langsam u. nach u. nach trennte. Schloßer schied d. 5. Mittags: eine allgemeine

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militärische Salve in Schampagnerwein celebrirte seinen Abschied. Die Reise

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u. Hochzeitfeier waren ihm eine wohltätige Erholung von dem Druck der

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mühsamsten Amtsgeschäfte u. noch mehr der Entbehrung seines irdischen

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Engels
Göthens Schwester
– u. vielfacher empfindlicher Leiden – auch in

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zweien
der Krankheit des jüngern von seinen zwei lieben trefflichen Mädchen –

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welches kaum von einer peinlichen Verstopfung, die ihm den Tod dräuete,

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befreit war.

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Die Zieglerschen Geschwister blieben die ganze Woche in unbeschreiblicher

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Eintracht u. Seligkeit. Selten kann eine Familie bei so manchen

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Verschiedenheiten so einträchtig, liebreich u. herzlich miteinander gefunden werden als

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diese – Und die selige Stunde des Abschieds, wo sie mit solcher Innigkeit von

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ihrer Harmonie, u. von den Freuden dieser Woche sprachen – die ist

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unbeschreiblich – die ist den Freuden der heiligen Engel ähnlich.

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Was weiter zu sagen ist, von dem Feuerwerk, u. von dem militärischen

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Exercitium wo Frauen u. Jungfrauen u. Jünglinge Rebstecke statt Flinten

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trugen u. das Schloß bestürmt u. vorm Patriarchen Altvater Obervogt

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paradirten, u. von – sonderlich von dem herrlichen stillen bescheidenen überzogenen

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reinen Wetter die Woche durch – u. wie alle – auch die schwächsten so gesund

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waren, vor lauter Freuden, u. vor lauter Gunsten der höheren zu unserer

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Freude vereinbarten Mächte – alles dieß muß ich nur übergehen, u. um

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Verzeihung bitten daß ich Ihnen, bester Hamann, ein so zerzerrtes Gerippe, statt

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eines beseelten redenden Bildes der seligsten aller meiner durchlebten Wochen

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darstellen darf.

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Mit ganzem Herzen wünsche ich Ihnen Freude u. Wohlergehen, bester

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Hamann.
Ihr ergebenster

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Schloß Hegi bei W. d. 16 März 1778.
Ehrmann.


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Gern möcht ich Ihnen auch gemeldet haben daß für K. – laut

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zuverlässigen Nachrichten ein wackerer junger Sohn unterwege ist – ich darf aber

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nicht – so was müßen Sie von K. selbst erfahren. Ihr
langer
,
am
29
Jan
.

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versprochener Brief
wird noch erwartet. Leben Sie wohl, bester Hamann.


S. 17
Adresse mit Mundlackrest:

2
Herrn Joh. Georg /
Hamann
/
Pr.
Königl. Preußis. Packhofverwalter /

3
Königsberg
/ in Preußen


4
Vermerk von Hamann:

5
Erhalten den 6
März
April 78.

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1943. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2553 [Gildemeisters Hamanniana], I 29.

Bisherige Drucke

ZH IV 13–17, Nr. 527.

Zusätze fremder Hand

16/10
Unbekannt
17/5
Johann Georg Hamann

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
16/10
Göthens Schwester
]
Laut ZH von fremder Hand zu „seines irdischen Engels“ geschrieben; in ZH im Apparat.