515
            
        382/9
Königsberg den 23 
Nov.
 777.
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HöchstzuEhrender Herr Capellmeister, 
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Landsmann und Freund, 
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Wenn es kein Misbrauch des Vertrauens ist: so erlauben Sie mir es zu 
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widerholen, daß ich bisher in einer sehr außerordentlichen Gemüthslage 
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gewesen, die ich mir weder zu erklären noch zu bemeistern imstande gewesen. 
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Ein treues Gemälde davon sind meine Briefe gewesen, wodurch ich wenigstens 
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so viel erreicht, mir Luft zu machen. 
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Wider all mein Erwarten wurde ich vorigen Mitwoch am 
Tage
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Namenstage meiner ältesten Tochter Lieschen, – in der Göttersprache heißt sie Elisa – 
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Wider all mein Vermuthen, sag ich, und trotz mancherley Zerstreuungen 
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wurde ich den 19 
huj.
 von meinem Briefe an den HE Geheimen 
Finanz
rath 
21
von 
Morinval
 entbunden, der mir seit dem April wie ein Nierenstein alle 
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meine Eingeweide wund gemacht, daß mir Lust und Muth zu leben darüber 
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vergieng. Es giebt eine Intensität in unsern Empfindungen, daß selbst die 
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Hyperbeln der Sprache sich blos wie Schattenbilder zum Körper der 
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Wahrheit verhalten. 
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Sie werden sich noch erinnern, HöchstzuEhrender Freund, daß ich den 
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7 
Junii
 selbst zum 
Curator
 der Blomschen Erben gieng und mit einer förml. 
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Protestation
 gegen einen öffentl. Verkauf Abschied nahm, fast mit der 
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Drohung, Käufer u Verkäufer aus dem Tempel zu geißeln, weil mein Haus kein 
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Kaufhaus seyn sollte, wie man zu den Blomschen Zeiten mit 
Caffé
 Zucker, 
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Citron
en, Gewürz 
p
 geschachert haben soll. – Hätte die 
Auction
 nicht vor dem 
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7 May abgemacht werden können, da der Garten noch in ihren Klauen war? 
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Hätte die Familie, die aus lauter Gärtnern besteht, nicht den Bettel in der 
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Stille theilen und unter einander abmachen können? 
S. 383
Nachdem durch die hiesige 
Intelligenz
blätter dem 
respectiv
en 
Publico
 der 
2
terminus auctionis
 auf den 29 
pr.
 bekannt gemacht worden war, ohne daß 
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ich eine Sylbe darum wußte, erhielt ich auch ein Einladungs
billet
 vom 
4
Curatore
 mit der höfl. Bitte ein Plätzchen in meinem Hause für den 
Mandatarium
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einzuräumen. Nach allen mögl. Ueberlegungen 
pro et con
tra
 schien mir das 
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klügste und vielleicht das einzige zu seyn, mausstille zu schweigen und dem 
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Uebel nicht zu widerstehen. Den Tag vor dem 
termino fatali
 erschienen 
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wenigstens 4 Dragoner und ließen es sich den ganzen Tag sauer werden wie ein 
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Bataillon
 Maulwürfe. Ohne es in meinen Gedanken so weit zu treiben, wie 
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die lieben Gebrüder Boanerges, wünschte ich wenigstens eine 
Salve
 von 
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Schnee, Hagel und kurschen Wetter, um für einen Mann Gottes erkannt zu 
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werden. Die Sonne aber erschien 
en galla
 und anstatt eines fürchterlichen 
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Ausruffs war es ein 
bal paré
 von 
Damen
 u 
chapeaux.
 Die ganze 
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Feyerlichkeit war in einem Nachmittage abgemacht; aber der Gräuel der 
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Verwüstung dauerte wohl acht Tage von 4 
à
 6 Dragonern, 
und
 Crethi und 
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Plethi von Gespann nicht mitgerechnet. 
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Nunmehro ist also erfüllt, was geschrieben steht 
ψ
 80. 14: Es haben ihn 
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zerwühlt die wilden Säue und die wilden Thiere haben ihn verderbt. Ohne 
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sich an den Pflanzen zu begnügen, hat man auch die 
Geländer der kleinen 
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Brücke
 über den Graben und die 
Einfaßung des kleinen Teiches
 – kurz 
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alles mögl. kahl und rein abe! gemacht 
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Weil es mein 
ernster Wille
 gewesen an dem ungerechten Mammon der 
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Blomschen Erben keinen Theil zu nehmen: so bin ich froh und hoffe daß 
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nunmehr eine eben so große Kluft zwischen uns befestigt seyn wird als zwischen 
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dem armen Lazaro und dem reichen Mann in der Hölle. 
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Nach glücklich überstandner 
crisi
 hab ich es für meine 
Pflicht
 gehalten 
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dem HE Geh. 
Finanz-
Rath von 
Morinval
 von der ganzen Verlegenheit 
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meiner Lage Rechenschaft zu geben, weil auch dieser Unfug der Blomschen Erben 
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als eine Folge davon anzusehen gewesen, und man so weit unmögl. hätte 
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gehen können, wenn man nicht sicher gewesen wäre von dem mehr als ruhigen 
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Verhalten meiner hiesigen Vorgesetzten u. getreuen Nachbarn. 
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Penzels 
Selma
 hatte die Dreistigkeit mich durch den 
Secretair
 der 
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Direction
 um einen Winkel meines Gartens ansprechen zu laßen, der das beste 
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Grundstück meiner Vorfahren
 ist, mit der Anerbietung mir dafür ein Stück 
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des 
Directions-
Gartens abzutreten. Ich habe aber dieser 
Jesebel
 wie ein 
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Naboth Bescheid geben laßen. 
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Ich war anfängl. willens die ganze 
Correspondenz
 mit der Wittwe 
Blom
S. 384
und ihrem Vater, als 
Curator
 der Erben, zum Beweise beyzulegen. Weil es 
2
mir aber weder um 
Weitläuftigkeiten
 und 
Privat
Vortheile
 zu thun ist, 
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auch 
directe
 Mittel mich mehr 
exponi
ren als fördern möchten, und es einem 
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ehrl. Mann das gröste Misgeschick ist sich zu einer Klage gegen seine Obern 
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genöthigt zu sehen so ist es für mich Beruhigung gnug, 
ex officio
diesen
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jenen Schritt ge
wagt
than zu haben. 
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Der beste Gebrauch, den der HE Geh 
Fin.
 Rath von 
Morinval
 machen 
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kann, bleibt also zum 
depot,
 bis die Zeit Maasreguln veranlaßt und 
gute
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und 
böse
 Absichten reif werden läßt. 
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Ich war so vergnügt mit meiner Arbeit fertig geworden zu seyn, und so 
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überdrüßig derselben, daß ich alles mögl. that 
sie
 noch denselben Posttag aus 
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dem Gesichte zu entfernen. Sollten also in der Eilfertigkeit Fehler 
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untergelaufen seyn – Nach einer schlaflosen Nacht war ich bey der Aufschrift so 
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zerstreut, daß mir nachher der alberne Zweifel einfiel 
Marvilliers
 anstatt 
de 
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Morinval
 auf dem 
Couvert
 geschrieben zu haben. Ich habe mich lange nicht 
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deshalb zufrieden geben können, kann mir aber kein so tolles 
quid pro quo
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vorstellen. 
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Haben Sie also 
Gelegenheit
 ein Wort darüber zu verlieren: so werden 
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Sie HöchstzuEhrender Freund! ohne mein Bitten nicht ermangeln, alles zum 
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Besten zu kehren – Wenigstens hoffe ich daß Sie im Nothfall im stande seyn 
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möchten gut zu sagen, daß nicht 
Privat-Interesse
 sondern Rücksicht auf 
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höhere
 und 
allgemeinere
 Pflichten mich thätig zu machen im stande sind – 
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und ich eher verdiene und nöthig habe 
aufgemuntert
 als niedergeschlagen 
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gemacht zu werden. 
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Mein gegenwärtiger Posten ist und bleibt das 
Non plus ultra
 – und Ihnen 
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aller Dank aufgehoben, und mit Gottes gnädiger Hülfe, sollen Sie, bester 
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Landsmann, noch ebenso viel Ehre und Gnugthuung von Ihrer Vermittelung 
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haben, als ich mir Ruhe und Zufriedenheit auf meine alte Tage von meinem 
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lieblich gefallnen Loos verspreche. Der kümmerliche und wunderlich 
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mühseelige Anfang ist mir Bürge eines gründlichern und glücklichern Fortgangs. 
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Doch gnug hievon! 
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Unser würdige Landsmann, mein Gevatter Herder, hat mir versprochen, 
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Ihnen selbst seinen 
Brutus
 zu übersenden. Sollte es noch nicht geschehen 
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seyn; so werde ihn nächstens daran wider erinnern. 
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Die gröste und vielleicht einzige Freude, die ich diesen Sommer gehabt, ist 
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gewesen unsern lieben Philosophen Moses 
Mephiboseth
 – Er wird seinem 
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Freund Jonathan diesen Eckelnamen vergeben, der mir beßer klingt als 
S. 385
Phädons seiner – hier in Preußen zu umarmen. Ich habe ihn alle Tage 
nolens 
2
volens,
 zur Zeit und zur Unzeit besucht – und ihn bis zum Thor hinaus 
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begleitet. Dies ist auch das aller einzige mal, daß ich außer den Ringmauern 
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von Königsberg in diesem Sommer gekommen bin. 
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Daß Unser Freund Staurogedion an einer Uebersetzung des Hudibras 
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arbeitet, wird Ihnen bereits bekannt seyn. Er ist beynahe mit dem ersten 
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Gesang fertig – 
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Was Sturz über d
ie
es Grafen von Bernstorf Reliquien geschrieben hat 
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verlang ich zu lesen – daß Bode die Wittwe heyrathet, sey zu beyder Frommen. 
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Daß Ihr Freund Prof. Engel den zweyten Theil seines Philosophen der 
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Welt herausgegeben habe ich gestern von ohngefehr aus einer Zeitung ersehen. 
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Daß unser Freund 
Nicolai
 über seiner diplomatischen Autorschaft 
in folio
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beynahe sein Gesicht verloren, ist ihm rühmlicher als die Mähre von der 
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Blindheit seines Homers. 
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Daß ich mich an den 
3
 drey 777 dieses laufenden Jahrs nicht habe rächen 
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können, ist nicht die kleinste meiner fehlgeschlagenen Hofnungen. Im Jänner 
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war ich auf guten Wege wie der heil. 
Slawkenbergius
 mich durch ein
e
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Fabellum de pudendis
 zu verewigen. Aber die 3 verwünschten Sieben dieses 
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laufenden Jahres haben das Scherflein meines armen 
Genius
 vereitelt. 
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Daß ich Ihren alten lieben Vater einen Sonntag in seinem Hause 
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beschlichen, versprach er mir Ihnen selbst zu melden. 
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Daß es Ihnen, Ihrer geliebten Frau Gemalin und allen den Ihrigen nach 
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Wunsch ergehen möge und sich die Zeiten auch in Ansehung Ihres ganzen 
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Glück Systems künftig Jahr und je länger je mehr beßern, aufklären und 
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übertreffen mögen, gehört zu den Bedingungen 
sine qua non
 meiner eigenen 
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Zufriedenheit – Ich umarme Sie und bin Ihr ewig verpflichtester Freund und 
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Diener 
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Johann Georg Hamann.
Provenienz
 Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1943. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 1. 
Bisherige Drucke
 Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, V 257–263.
 ZH III 382–385, Nr. 515.