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Kgsberg den 27 März 76.
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Geliebtester Herr
Doctor
und Freund,
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Vorgestern des Morgens erfreute Ihren HEn Bruder mit Ihrer sehnlichst
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erwarteten Antwort, die ich ihm unmittebar von der Post zubrachte. Es
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überfiel ihn nach Lesung derselben eine außerordentliche Wehmuth, doch ohne daß
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ich den Ausbruch wirklicher Thränen bey ihm jemals habe bemerken können.
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Ohngeachtet eines abscheulichen
Th
Sturms und des Posttages besuchte
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ihn noch Nachmittags, um seinen gegenüber wohnenden Doctor sprechen zu
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können, der aber wegen eines Leichenbegängnißes seiner nahen Blutsfreundin
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nicht zu Hause war. Aus den Eindrücken des Artztes auf den HEn Bruder,
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der ihm Einl. mitgetheilt hatte, ließ sich eben nicht viel vortheilhaftes
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schließen, weil alle Ihre vorgeschlagene Mittel und die äußersten bereits ohne
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Erfolg
be
versucht worden wären, auch nicht so wol von der Waßersucht als
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weit mehr von einem Uebel der Leber die Folgen abhiengen. Als ich gestern
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frühe zum
D.
eilte, begegnete mir die alte Louise mit der traurigen Nachricht
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einer höchst elenden Nacht, daß sich Schmerzen in dem kranken Fuß unten am
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Enkel gefunden hätten, welche die Gegenwart des
D.
u Wundartzts erfordert
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hätten, die den Brand besorgten. Der
D.
bekräftigte mir diesen neuen Zufall
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und versicherte mir, daß er als Freund und Nachbar an Ihrem HEn Bruder
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gehandelt – aber an keine menschliche Hülfe weiter zu denken wäre, die er
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schon längst aufgegeben zu haben scheint. Mittlerweile hatte mich nach
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d’Ailhaud
Pulver erkundigt, erfahren, daß es hier bey dem
Licent-Inspector
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Lombard
zu haben wäre, der es als seine HausApothek brauchte, auch Graf
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Buttler schlechtere Versuche damit gemacht hätte. Erhielt zufäll. des Verf.
Traité
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de l’Origine des Maladies,
sein
Dictionnaire des maladies gueris par le
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Remede universal
u des Sohns
L’ami des Malades
um einen Begriff von
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dem Gebrauch zu haben; lief Nachmittags wieder zu unserm lieben Kranken
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hin, weil ich ihn des Morgens nicht hatte sprechen können, weil mir die
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Wärterinn sagte, daß er nach unerhörten Schmertzen einen Augenblick schiene in
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Ruhe u Schlaff gefallen zu seyn, fand Ihre liebe Mama, (die mir Ihren herzl.
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Gruß auftrug und mit männlicher Standhaftigkeit das Leiden Ihres Sohns
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so oft es nur möglich ist abwartet auch selbst seine Auflösung wünscht) und
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fand den Kranken in großen Schmerzen, denen er seine scheinbare Munterkeit
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zuschrieb, und in eben so großer Hitze. Er hatte sich an 2 Gläser Bier erquickt,
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davon ihm das erste herrlich geschmeckt hatte, und war sehr neugierig die Uhr
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zu wißen. Wie man ihm sagte, daß es 4 wäre: so freute er sich 12 Stunden
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überstanden zu haben, weil er das Daseyn des heißen Brandes an seinem
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Fuß wußte. Oeffnungen haben bisher immer mit
Lavements
erzwungen
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werden müßen. Blutygeln hat er aus eignem Antrieb sich vorigen Sonnabend
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applici
ren laßen, hat sich dadurch erleichtert gefunden u schien viel Vertrauen
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zu diesem Hülfsmittel zu haben, das Sie ihm auch empfohlen. Ich schreibe
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dieses des Morgens und werde meinen Brief mit dem schließen, was ich bey
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meinem Ausgange erfahren werde. Mitfasten den 13
huj.
nahm er Abschied
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von mir; und ich kann Ihnen meinen Zustand nicht beschreiben, den ich
acht
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Tage
ausgestanden, daß ich genöthigt gewesen, mich ein paar Tage zu Hause
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zu halten und zur Ader zu laßen. Die Entlegenheit meiner Wohnung
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ungeachtet besuch ich ihn so viel mögl. des Tags ein paar mal. Daß mein
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Gemüth, welches einer rohen Wunde gleich, dabey leidt, können Sie leicht
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erachten. Ungeachtet ihn die ganze Stadt längst für todt ausgegeben und dafür
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hält, haben Lauson und ich eben so viel Hoffnung als Sie selbst gehabt. Ich
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verstehe von der
Medicin
nichts u mag auch nichts davon verstehen. Seine
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Erhaltung des
Geistes
und
Fähigkeit zu arbeiten
, da er solange von
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Arzeneyen gequält worden u weder eßen noch schlafen können, hat mir immer
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außerordentlich geschienen; und die Gewalt der Natur die so viel Wege sucht
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ihres Uebels loszuwerden ohne unterzuliegen – Vielleicht ist der gegenwärtige
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Anschein des Brandes noch die letzte
Ressource.
So wenig Vertrauen u so
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viel ich auch zu dem französischen Pulver habe, erwarte ich noch immer
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getrost eine Antwort, ob bey gegenwärtigen Umständen noch der Gebrauch des
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letzten Mittels zu versuchen werde. Erlebt er Ihre Antwort noch, und Sie
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schreiben liebster Freund Ja! so werd ich mein Bestes thun den
Nuppenau
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dazu auf meine Seite zu ziehen. Wie
destruirt
die Maschine seyn muß, können
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Sie selbst erachten. Gott sey uns allen gnädig!
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Auf meinem
Bureau
um 10 Uhr.
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Komm eben von unserm sterbenden Freunde zurück ohne Ihn selbst
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gesprochen zu haben, aber Ihre
Mama,
welche mir mit ruhigem Herzen die
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Näherung der schwarzen aber für den Leidenden und alle Theilnehmer und
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Nachfolger lieblichen Stunden anmeldete. Die ganze Nacht nichts als
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Schmerzen, und nunmehro Frost. – Alles nähert sich zum Herzen – und es bleibt hier
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kein anderer Wunsch übrig, als das beste UniversalMittel eines sanften und
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seeligen Endes Amen!
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Um 3 Uhr Nachm.
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Eben diesen Augenblick komme von unserm sterbenden Bruder und Freunde,
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der mit einem herzl. und vergnügten:
à revoir!
von mir Abschied nahm. Ob
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ich
ihn
noch morgen im Lande der Lebendigen sehen werde, weiß Gott allein.
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Gott tröste Sie und bereite Sie zur Bestätigung dieser Nachricht. Er geht
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Lebenssatt in christlicher Verfaßung aus dieser Welt und voller Sehnsucht
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nach einer beßeren und künftigen, ihm Gottlob! näher wie uns.
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Ihre liebe Mama und Justchen, die Frau und Kindes Stelle in seiner
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Krankheit vertreten, bitten Sie inständigst herüber zu eilen. Ich wünschte daß Ihr
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jüngster Bruder unterweges wäre. –
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Gott stehe Uns allen bey – Nächstens mehr. Gott empfohlen unter den
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zärtlichsten und herzlichsten Grüßen an Ihr gantzes, gantzes Haus – Die
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Postuhr hat bereits geschlagen.
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Im Kanterschen Buchladen.
Hamann.
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Adresse mit rotem Lacksiegelrest:
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à Monsieur / Monsieur Lindner / Docteur en Medecine / à /
Mitow
. /
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fr.
Mummel
.
Provenienz
Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1943. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 3.
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, V 165–167.
ZH III 221–223, Nr. 463.