461
217/23
Kgsberg den 4 März 776.

24
HöchstzuEhrender Herr CapellMeister und Freund.

25
Gestern
Dom. Reminiscere
besuchte mich unser Freund Kreutzfeld und

26
erfreute mich mit Ihrem
Reminiscere,
da ich in der
übelsten Laune
von der

27
Welt war – Ohngeachtet ich ihm die Ursache derselben anvertraute und den

28
Bericht davon überlies, fällt es mir diesen Augenblick ein bey der grösten

29
Dürftigkeit der Zeit und des Gemüths der
eigene Bote meines Gewerbes

30
zu seyn: da Sie sich in gleichen Umständen mit mir befinden, Zeit zur Lesung

31
freundschaftlicher Briefe übrig zu haben, u diejenige entschuldigen zu können,

32
denen es an Augenblicken fehlt selbst zu schreiben.

33
Der Handel betrift meinen
jüngsten Freund
Penzel, deßen gutes Glück in

34
meinem Vaterlande mich ziemlich mit selbigen ausgesöhnt hatte. Vor einigen

S. 218
Wochen ist er hier vorm
Gouvernement
vorgeladen u über die Art sr

2
Anwerbung
verhört
worden, weil der König davon
instrui
rt werden
s
wollte auf

3
Vorsprache eines
Bernouilli
,
den wir anfänglich zu unsern großen Wunder

4
in Basel suchten, der aber, wie man jetzt hört, ein Sohn jenes u in Berlin

5
seyn soll. Vorigen Donnerstag brach das Gerüchte aus, daß der König

6
geantwortet: er sollte Soldat bleiben, weil er ein
lüderlicher Mensch
wäre,

7
der die junge Leute verführte. Ungeachtet der
Auditeur
des Regiments

8
versichert, daß der Bericht des
Gouvern.
vortheilhaft für ihn gelautet hätte: so

9
ist doch, wenn dies wahr seyn sollte, um desto mehr zu zweifeln, da der
Gouv.

10
wie Sie vielleicht noch wißen werden, durch die Vorbitte ss gewesenen Lehrers

11
Crichton,
der in sr. Unschuld vorgestellt, daß ein solcher Mensch
zu Schade

12
wäre
für sein gegenwärtiges Schicksal, aufgebracht worden, sich an das ganze

13
Reich der Gelehrsamkeit und die ganze deutsche gelehrte Republik, durch den

14
Fang
eines Magisters
, als ein leibhafter Satan zu rächen und ihn nicht aus

15
seinen Klauen zu laßen – – Daher sind alle Anerbietungen eines andern

16
Recrouten,
worunter einer ein Goliath in Vergleichung des
Penzels
gewesen

17
seyn soll, bisher fruchtlos gewesen und die Gerechtigkeit und
Religion
des

18
Königs
scheint
durch einen
erlogenen
Bericht, wie es leider alle Tage 7 × 70

19
geschicht, hintergangen zu seyn.

20
Was ich vorgestern und gestern vor Angst und Unruhe für
diesen ehrlichen

21
Mann
ausgestanden zu haben und wie in eine kranke hypochondrische

22
Einbildungskraft für ihn aufgebracht worden – überlaße ich Ihnen als einem

23
Virtuosen selbst zu beurtheilen.

24
Giebt es zu Berlin einen
Bernouilli,
der ohne ihn zu kennen sich seiner

25
angenommen hat und Sie wären im Stande ihn selbst zu sehen oder seiner

26
Bekannten einen: so danken Sie Ihm für sn guten Schritt – und melden Sie

27
Ihm, daß er denselben für keinen unwürdigen oder lüderlichen Menschen

28
gethan, den ich mein bestes thun werde
fest zu halten
, daß er seinen

29
Fürsprecher
und
seinen eigenen Character
rechtfertige.

30
Ich habe
P.
den 16
Jul. p. Dom. V. p. Trinit.
durch u bey m Freund

31
Krause
kennen gelernt. Er besucht mich ordentlich
e
Einmal
die Woche,

32
des Sonnabends und pflegt mir von allen sn Schritten u selbst Thorheiten

33
Rechenschaft abzulegen. Ueberhaupt hat er eine
Offenherzigkeit
u

34
Aufrichtigkeit
, die mit keiner Niederträchtigkeit bestehen kann.

35
Er hat mir sein gantzes
Schicksal
in Würtzburg anvertraut, und sein gantzes

36
Leben ist ein
wunderbares Gewebe
, das es noch mehr bey sr. Jugend u

37
Unerfahrenheit wird, und mehr
Mitleiden
u
Erstaunen
verdient als ihn auf

S. 219
irgend eine Art erniedrigen sollte. Es wäre himmelschreyend, wenn eine so

2
glückliche Anlage zum großen Mann
durch Tummheit und Bosheit

3
unterdrückt und zur Verzweifelung gebracht werden sollte.

4
Mit
D.
Büsching steht er im Briefwechsel und kennt auch unsern Freund

5
Nicolai, wo ich nicht irre persönlich, da er noch nichts als ein
gelehrter

6
Bursch
gewesen; der durch sein Schicksal nunmehr weit über seine Jahre

7
ausgebildet worden, und
diese Schule
wohl schwerlich hätte entbehren können.

8
So viel, Geliebtester Freund, werden Sie also wohl sicher thun können den

9
Character
eines unglücklichen Mannes besonders gegen sn. unbekannten

10
Mittler
u übrige Freunde und Gelehrte zu retten. Da er weder zum Soldaten

11
noch akademischen Körper gehört, dem letzten vielleicht Eingriffe gethan und

12
sich den
1
Neid beyder zugezogen durch
Unbehutsamkeiten
, die im Grunde

13
nichts als zieml. gleichgiltige
Thorheiten
und Leichtsinnigkeiten sind und

14
jedes
ingenium sine venia
nicht bestehen kann – Melden Sie doch unserm

15
Freunde
Kreutzfeld
mit erstem, wenn Sie dort etwas mehr wißen sollten, als

16
wir hier. Daß Sie mir einmal selbst schreiben, erlaube ich Ihnen nur bey

17
recht guter
Muße.

18
Ist mein Freund
Director Stockmar
noch dort; so empfehlen Sie mich

19
demselben aufs beste. Gevatter
Kanter
ist noch in Marienwerder; meinem

20
Gönner
Nicolai
werde den Empfang des 2ten Theils bescheinigen.

21
Leben Sie gesund und glücklich, Vergeßen Sie Ihr
Vaterland
nicht und

22
laßen Sie sich vom
Mardochai
ins Ohr gesagt seyn: Gedenke nicht, – weil

23
du im Hause des Königs bist, vor allen Juden –

24
Ohngeachtet ich keine Neigung habe Berlin zu sehen, so hätte ich desto mehr

25
Lust durchzureisen und eine Brunnencur zu brauchen, weil ich nicht weiß wie

26
Gesundheit
mit meiner
Lebensart
noch bestehen kann.

27
Können Sie meine Hand lesen? – Grüßen Sie meinen alten Freund
Moses

28
Mendelssohn
, dem ich noch das
Agio
von 10
Louis d’or
schuldig bin – aus

29
verfluchter Tummheit, weil ich nichts von Geldhändeln verstehe – Kennen

30
Sie meinen gewesenen Freund den Prediger Eberhard in Charlottenburg?

31
Der gute gnädige Gott sey mit Ihnen und bewahre Sie vor der argen

32
Hofluft. Ich bin Ihr ergebenster Landsmann, Diener u Freund

33
Johann Georg Hamann.


34
Postskript Kreuzfelds:

35
Die ganze Angelegenheit unsers Hamanns, um zugleich meine eigene mit meinen

36
eigenen Worten zu wiederholen; (denn er hat mir in einem beygefügten
Bilett

37
zuverstehen gegeben, daß, wo ich Undeutlichkeit des Ausdrucks oder der Buchstaben

S. 220
wahrnähme, ich beydes in einigen Noten Ihnen aufklären sollte. Dazu hat er mir

2
diese Seite Raum gelaßen den ich ausfüllen soll. Er kann kein
vacuum
in Briefen

3
leiden.) Also: Penzel wurde vor drey Wochen für den
Gouverneur
gefodert um sein

4
Geständnis von dem
Malheur
seines
Engagements
pünktlich einzuliefern, damit

5
dieses dem Könige, der es vom
Gouverneur
verlangt hatte, auf das eiligste eingehändigt

6
würde. Das geschahe auch. Man gratulierte Penzeln, und er sich selbst; theils weil

7
die Veranlaßung dieser Nachfrage von der Vermittelung eines unpartheyischen

8
Mannes herrührte,
der, wie
von
Bernoulli
in
Basel,
oder wie man nachher sicherer

9
erfahren von deßen Sohn
Bernoulli
in
Berlin;
theils, weil man Versicherung hatte,

10
daß der abgelaßene Bericht des
Gouverneurs
keine Verläumdung in sich hielt. Aber

11
die Entscheidung des Königs soll anders ausgefallen seyn. Er soll Soldat bleiben;

12
unter dem Vorwande, daß Penzel ein lüderlicher Mensch wäre. Rührte diese

13
Beschuldigung vom
Gouverneur
selbst her, so dürfte man sich nicht verwundern. Oder

14
von wem rührt sie her? gegen wen soll und kann er sich rechtfertigen? In

15
Königsberg rechtfertigt ihn alle Welt vermöge der guten Aufführung, die ihn seit kurzem den

16
anständigsten Gesellschaften einverleibt hat; wozu ihm nicht nur sein Fleiß als

17
Gelehrter, sondern auch seine gute Einrichtung der Oekonomie beförderlich ist. Wer hat

18
Herz, sein jetziges Betragen durch seinen vorigen Leichtsinn zu zernichten; oder auf

19
Rechnung seines künftigen Rückfalls zu verschwärzen!

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1943. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 1.

Bisherige Drucke

Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, II 186–188.

Heinrich Weber: Neue Hamanniana. München 1905, 90–92.

ZH III 217–220, Nr. 461.

Zusätze fremder Hand

219/35
–220/19
Johann Gottlieb Kreutzfeld