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Seit dem Sie uns, bester Hamann, den Erfolg u Exekution der

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Hochgräflichen Einladung versprochen haben, sehen wir uns gänzl. ohne Dero

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Nachrichten. Wir sollen doch nicht, bester Hamann, die Ursache davon in eine
m
r

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unangenehmen
Zufalle
Begegniß
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suchen. Lassen Sie bald, bitte, einen

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Laut nach der Schweiz schallen, der uns verkündige Ihr Wohlbefinden Freude

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u. Liebe. Sie werden Kfm. wohl thun – u. denen die Sie durch ihn lieben.

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Ich möcht Ihnen gern sein Leben u. Treiben, sein
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Ruhen u. sein

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Arbeiten beschreiben, wenn ichs recht könnte. Das erste u. wichtigste ist daß

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er bald die erste heilige Frucht seiner Liebe zu umarmen hofft
εὐτυχουσι και

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τριμηνα παιδια
. Sein Weib ist sehr gesund, recht stark u. frisch, doch hat sie

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vor einiger Zeit, Wochenlang, empfindliche Beschwerlichkeiten überstehen

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müssen. Die Zeit die Kfm. am frohesten zubringt ist im Garten, u. aufm

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schwiegerväterlichen Felde, oder im Hause in kleinen, reinen,
her
leichten,

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nüzlichen Zurüstungen aufs künftige eigene Hauswesen. Nie hörts auf daß

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nicht ein paar Patienten Ansprüche auf seine Hülfe machen, gegründet auf

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die Rechte der Verwandtschaft, Freundschaft, Vorsprache oder Dürftigkeit –

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was dann freil. meist drückende Last wird sonderlich da’s allemal mit

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moralischen Verdrehungen zusammen hängt, die dem sterblichen Arzte allzu

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komplicirt u. verwurzelt sind. Dann schickt etwan ein braver guter Schwager

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seinen ältesten aufm Wege des Verderbens halbversunkenen Jungen herbei,

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den soll er heraus ziehen, reinigen, emporheben – Dann giebts böse Geister

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die bald den, bald jenen, bald alle der
Nächsten
umher einnehmen um den

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zu necken der Trieb u. Kraft hat an der Zerstörung ihres Reiches zu arbeiten –

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u. so – ach ich vermags nicht mit natürl. Farben zu schildern – Das

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Allgemeine wissen Sie, theurer Hamann, wohl ohne hin. Genug Kfm. ists wohl:

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er lebt zufrieden im Gegenwärtigen, u. freudig in besserer Zukunft. Er sizt

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hier u. schreibt Recepte u. unaufschiebbare Briefe – wär ihm so wohl wenn

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er an Sie, bester Hamann, schreiben könnte – Nun jauchzt er vor Freuden

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u. nun trommelt er daß weit umher die Wälder wiederhallen, denn sagt er, es

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ist wieder ein Stürmelein vorbei. Wir sind zu oberst aufm Thurm des

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Schloßes, einem herrl. Denkmal des Geists unserer Altvordern. Zu vier Seiten vier

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gleiche 6 Schuh dicke Mauern, von rohen Steinen, veste wie die Grundpfeiler

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der Erde u. gerade wie die unbestechlichste Treue; kein Meißel hat einen Stein

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berührt, keine Kelle hat die Mauern übertüncht. Auch freuen sich die Vögel

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des Schloßes wie wenns ein Felsen wäre mit uralten Steineichen

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umwachsen, auch die Frösche quacken so frei an den Fischteichen ums Schloß her, wie

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sies um kein fürstlich Palais dürfen. Die Dächer der Wohngebäude sind tief

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unter uns am Thurn herum, gehen kreuz u. quer ohne Plan ohne Symmetrie

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u. ist einen so wohl man mag sie von oben oder unten ansehen – Ein

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Halbduzend oder mehr spize kleine Thurnlein stehn dran, kein Mensch weiß

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wozu u. warum es sei denn um die Wetterhäne – dieß u. die Fenster- u. die

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Riegelbalken, u. die Thüren alles so unsymmetrisch, so blos auf einen

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momentanen
individuellen Zweck (der freilich allemal der wichtigste ist) –

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daß freilich niemand ist der das Schloß schön nenne, aber weit weniger einer

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der es nicht mit Freud oder Behagen ansehe. Verzeihen Sie mir, aber wenn

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Sies kennten, sie würden mir recht geben. Die Kühe kommen nach Haus, ich

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höre die eintönige Schelle, die Frösche werden lauter, die Vögel sind stille,

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ausgenommen den fernen Kukuk u. einen heischern Hahn, zu meiner Linken

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schickt sich die Sonne zu einem schönen Untergang u. vor mir stehn die Berge

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die dem Blick die nordischen Gegenden decken – die er, deckten sie nicht, doch

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nicht zu erreichen vermöchte. O wenn Hamann den Abend mit uns Erbsekhost

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u. Birrestückli u. feißten Hammen speiße, Pfenninger ihm Claudius

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Trinklied oder eine Romanze „Es hat en Bur ens Töchterli“ vorspielte u. stimmte

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Elisa u. ihre Schwester u. alt u. jung mit ein – oder der Obervogt, unser

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75jähriger Vater grad u. still u. treu wie die Mauren des Schloßthurms säng

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am Tisch ein altes Trinklied das er vor 60 Jahren bei bescheidenen Mahlen

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gelernt, u. brächte so treulich Ihre Gesundheit mit an die wir ihm blos auf

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seines Tochtermanns Relationen hin schon so oft mittrinken mußten – dann

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giengen wir auf die Höhe zu schauen die fern hoch emporragenden

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Schneestirnen der Rhätischen Alpen die halb Europa mit Wasser u. Fruchtbarkeit

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versehen ohne Dank wie der stillzufriedenste thätige Edle – Leben Sie wohl

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bester Hamann, wie will ich Ihnen erzählen wenn nur einst Gott uns erfreut

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hat mit einem Knaben aus Christophs Lenden, der ein Erbe sei seiner Liebe zu

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den Wenigen wo sie Plaz fand. Leben Sie wohl.

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Hegi 14 Mai 1778.
Ihr ergebenster, verpflichteter

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Ehrmann.

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1943. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2553 [Gildemeisters Hamanniana], I 29.

Bisherige Drucke

ZH IV 21–23, Nr. 530.