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87/30
Grünhof den
5 Jenner 1755.

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GeEhrtester Freund,

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Ich habe wegen ausgebliebener Gelegenheit nach der Stadt zum Glück noch

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Zeit Ihnen auch zu schreiben. Schon ein paar Posttage her hab ich es gewünscht

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Brief
nicht überliefert
ohne dazu kommen zu können. Ihren angenehmen Brief habe eben von meiner

S. 88
Mietau
heute Jelgava, Lettland [56° 39′ N, 23° 43′ O] (40 km südwestlich von Riga)
Rückkunft aus Riga in Mietau erhalten. Ihre Freunde freuen Sich alle darauf

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Sie bald zu sehen; v ich sollte nicht denken, daß Ihnen unüberwindliche

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Hinderniße darinn in den Weg gelegt werden könnten. HE. Berens wird Ihnen

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vermuthl. schon geschrieben haben; seine Beßerung wird ihn schon so weit

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gebracht haben, daß er dieses ohne Kopfschmerzen wird thun können. Diese waren

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es, worüber er sich am meisten beklagte. Erlauben Sie mir unterdeßen, daß

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ich dasjenige, was ich theils durch ihn theils durch andere gehört, in der

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Geschwindigkeit auf allen Fall zusammen nehme. 1.) Sie dienen sich selbst nicht,

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wenn
und legen sich chimärische Verbindlichkeiten gegen Leute auf, denen

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Ruff
an die Rigaer Domschule
Sie nichts zu danken haben, wenn Sie Ihren Ruff als ein Werk der

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Barmherzigkeit ansehen v denselben durch unrechte Gönner sich günstiger zu machen

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Bürgermstr.
Gotthard v. Vegesack
, Bürgermeister von Riga; als Rektor der Stadtschule wird Lindner Angestellter der deutschen Stadtregierung, nicht der russischen Gouvernementsregierung.
Scholiarch
Immanuel Justus v. Essen
: der für Schulfragen zuständige Ratsherr
suchen. Der Magistrat; v besonders der Bürgermstr. v.
Scholiarch
sind die

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Hauptpersonen, deren Beystand Freundschaft v Nachdruck Sie bey Ihrem

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künftigen Amte nicht entbehren können. Der Ob. Pastor ist ein Mann, der

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ohne Ansehen v dem Sie auch als einem Freunde nicht trauen können, der

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Ihnen aber jetzt als Feind nicht schaden kann. Er ist aufgebracht, daß man

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seine Stimme in ihrer Wahl gänzl. vorbeygegangen v giebt Ihnen Jugend,

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Freygeisterey v
den
die Auseinandersetzung ihres Schwagers schuld. Ich

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würde Ihnen dies nicht so dreist sagen, wenn ich glaubte, daß seine Urtheile

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Ihnen bey vernünfftigen Leuten nachtheilig v ihnen selbst empfindlich seyn

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HE. v. C.
Johann Christoph v. Campenhausen
, der als Vertreter der livländischen Ritterschaft in Konkurrenz zur Stadtregierung stand.
könnten. Der HE. v. C. hat sich mit vielem Eifer Ihrer angenommen der

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Ihnen
Sie mehr hätte verdächtig als beliebt machen können. Die Stadt

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Als livländischer Regierungsrat hatte
Campenhausen
Einfluss auf die Ämterbesetzung in Riga.
sieht ihn als den gefährlichsten Mann für sich an; man fürchtet seinen Einfluß

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in allen Händeln v sieht selbige immer als Absichten an, Eingrieffe zu thun,

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ja selbst zu schaden. Urtheilen Sie selbst wie man bey einer solchen Eifersucht

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v. nöthigen Behutsamkeit gegen ihn, diejenige Vorschläge, die ihm am meisten

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scheinen am Herzen zu liegen aufnimmt. Ich bin bloß aus dieser Absicht bey

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sm. Hofmstr. einem weitläufftigen Vetter des Gellerts, HE. Richter, gewesen

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um daselbst vielleicht etwas zu erfahren, aber nichts mehr als die grösten

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Lobsprüche ss
Gnädigen
HE durch ihn gehört.

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2.) Sie haben viel Freunde in Riga, die sich alles von Ihnen versprechen v

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Ihnen zutrauen die Stadtschule in Aufnahme zu bringen. Für allem werden

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Sie einen geraden Weg daselbst zu gehen nöthig haben v sich besonders gegen

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Ihre Amtsbrüder in eine gute Stellung setzen müßen, deren Umgang v.

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Vertraulichkeit Sie vermeiden v Ihren ersten Versuchen Sie einzuschrecken oder

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sich Ihrer zu bemächtigen, besonders mit Nachdruck wiederstehen müßen. Bey

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meinem jetzigen Aufenthalte war ein großer Streit zwischen dem
Cantor
v.

S. 89
Subrector
gewesen, die sich für Sch‥ v. Hundsv… geschimpft hatten in

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Gegenwart der Schüler also zum Ärgernis der ganzen Stadt. Urtheilen Sie

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wie nöthig es seyn wird sich gegen solche Leute zu setzen v sie so wohl als die

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Schüler in Gränzen zu halten. Wie ungl. hier der Umgang vom

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Königsbergschen ist, werden Sie bald sehen. Man ist kaltsinniger,
un
gezwungener

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v gleichgiltiger. Man sucht sich weniger zu unterscheiden v zu gefallen.

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Paß
den preußischen
3.) Unser Freund hatte den Einfall wenn Sie dadurch ihren Paß erhalten

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könnten, daß Sie versprächen diejenige, die aus Ihrer Schule künfftigen gehen

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würden, nach Königsberg v d. hohen Schule s
s
r Länder zu
recommendi
ren.

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Dergl. Cameralvorstellungen pflegen dort sehr ins Auge zu fallen.

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4.) Zu dem Griechischen v. ebräischen v ihrer
Theologie
werden Sie nöthig

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haben noch einige Zeit zu wenden. Man hat in der ersten Sprache hier

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profan-Scriben
ten. Machen Sie sich nicht zu gar zu vielem anheischig v vermehren

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Sie die Stunden nicht ohne Noth sich damit selbst zu überhäufen. Ich glaube

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daß es am meisten auf eine andere Einrichtung überhaupt v. auf einen ordentl.

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Fleiß derjenigen, die unter ihnen sind, ankommen wird. Das letzte wird Ihnen

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am meisten kosten.

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Cölestin Flottwell
, vll. hatte er ein negatives Gutachten ausgestellt. Die Feindseligkeit zwischen Lindner und Flottwell in dieser Zeit (innerhalb der
Königl. deutschen Gesellschaft
) hatte auch zu tun mit der Publikation von
Lindner,
Anweisung zur guten Schreibart
. Flottwell lehnte dies Werk als treuer Gottschedianer ab als unliebsame Konkurrenz von intellektuellen Anfängern. Möglicherweise hatte er schon 1752 gegen Lindners Bewerbung (mit der Diss.
Lindner,
Vénus métaphysique
) auf eine Professur an der Königsberger Universität intrigiert.
Die Treulosigkeit des Prof. Flottwell ist vielleicht eine bloße Wirkung des

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Neides. Ich warte mit Schmerzen, was Sie mir für besondere Umstände

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davon zu melden versprechen. Müßigen Sie sich doch eine kleine halbe Stunde

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des Abends ab so oft als mögl. an mir schreiben zu können. Nehmen Sie mir

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meine Freyheit nicht übel in Ansehung meiner Gedanken die ich aufgesetzt

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habe. Die Kürze hat sie vielleicht ein wenig plump v. geradezu gemacht.

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Theilen Sie solche niemanden mit; vergleichen Sie selbige mit anderer

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Nachrichten um sie desto richtiger zu beurtheilen. Denken Sie an HE. B. nichts daran

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Post in Liefland
Da Riga zu Russland gehörte, galten dort auch die russ. Postverhältnisse, d.h. auswärtige Briefe wurden üblicherweise geöffnet und geprüft. Da das Gut Grünhof der v. Witten in Kurland (heute Zaļā [Zaļenieku] muiža, 70 km südwestlich von Riga, 20 km südwestlich von Jelgava/Mitau, Lettland [56° 31’ N, 23° 30’ O]) lag, konnte Hamann von dort aus unbefangener schreiben, wenn gesichert werden konnte, dass die Post auf anderem Wege als über Riga abgewickelt wurde. Vgl.
Graubner (2002b)
.
noch an Rigische Namen auf eine zweydeutige Art. Die Post in Liefland ist

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neugierig v. argwöhnisch in Curland desto sicherer auch nicht so kostbar.

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Schreiben Sie nach Riga fleißig; so oft wie Sie können an ihren Freund durch

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Couv.
es Kaufmanns. Er sieht den Titel eines Candidaten nicht gar zu gern.

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Joh. Christoph.
Berens
Joh. Christoph.
heist er; die
addresse
unweit der Reformirten Kirche.

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Wiewohl in Ansehung der Aufschrift können Sie es auch beym alten laßen.

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Fordern Sie von mir, Liebster v GeEhrtester Freund, daß ich diese

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umgewandte Seite zu einem
Catalogo
von Gütern machen soll, die ich Ihnen

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zum Neuen Jahre wünsche? Sie werden von meinen Gesinnungen gegen Sie

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v. von meinem Eifer gegen alles dasjenige, was Sie
angehet
, überführt seyn,

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ohne daß ich damit pralen darf. Gott helfe Sie zuförderst glücklich aus der

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gegenwärtigen Verwirrung, in der Sie jetzt ohne Zweifel leben, er laße es

S. 90
weder Ihren Absichten noch Anschlägen fehlen, er laße es Ihnen an Feinden

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nicht fehlen, die Ihre Verdienste v Vorzüge, Ihre Einsichten und Tugenden

3
der Welt brauchbarer,
und
schätzbarer und augenscheinlicher machen; noch

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weniger an wahren Freunden, an großen Freunden, deren Herz und Hände

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wohlthätig und unerschöpflich sind. Die Küße, die Zärtlichkeit, die

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Umarmungen ihrer liebenswürdigen Marianne versiegeln Ihr Glück! Sie sey die

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Morgen v. Abendröthe Ihrer Tage! Wie freue ich mich über Ihre gegenseitige und

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künfftige Zufriedenheit! Wie sehr hängt meine eigene davon ab! Lebt

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glücklich, lebt ewig glücklich und vergest nicht, daß ich es euch, liebes Paar, mehr

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als mir selbst gönne.

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Nun laßen Sie mir noch ein paar Worte von mir selbst reden. Ich seufze

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über mein Schicksal, das mir vielleicht günstiger ist als ich es verdiene;

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unterdeßen ich seufze. Vielleicht thue ich mir selbst zu viel, wenn ich ich sage; weil

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ich mich weniger als sonst fühle. Mein Hennings fällt mir jetzt öfters ein v.

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seine Klagen werden mir jetzt durch die Erfahrung wahrscheinlicher. Der

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Mangel an Umgange, durch den Witz v. Herz verrostet, ein Ehrgeitz, dem es

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an Kräften fehlt, ‥ kurz ich kann selbst nicht aus mir klug werden. Ich

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verlaße mich auf Ihre Vorsorge v hoffe auf das späteste daß Sie mir einen

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Nachfolger
als Hofmeister, vll.
Gottlob Immanuel Lindner
Nachfolger mitbringen werden. Man hat mich auf das dringendste gebeten mich

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so lange wenigstens aufzuhalten; v ich habe mein Wort auf 3 biß 4 Wochen

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Zügling
Zögling,
Woldemar Dietrich v. Budberg
über meine Zeit gegeben. Meinen vorigen Zügling habe in Riga gleichfalls mit

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vieler Rührung gesprochen. Wie lieb ist er mir noch. Nichts als eine andere

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Mutter
siehe bes.
Brief 18
u.
19
Mutter v ich würde aus Neigung mir alles
gefallen ihn
zu erziehen. Er hat

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gar keinen Hofmeister jetzt; man hat Gellert durch sn. erstgedachten Vetter

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aufgetragen, der auch schon wirkl. jemanden gehabt. Die Antwort ist zu lange

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außen geblieben. Ich habe seine Briefe darüber alle mit vielem Vergnügen

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gelesen. Wie kurz, wie zur Sache, wie redlich pp wie empfindlich ist er in dem

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letzten!

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Ich werde einige Zeit nöthig haben mich zu erholen. Vielleicht werden Sie

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mir dazu die beste Gelegenheit verschaffen. Wenn Sie als mein alter Freund

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hieher kommen so werden Sie mir eine kleine Zuflucht in Ihrem Hause nicht

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abschlagen. Doch sorgen Sie nur erst für Ihren Abschied und Ihre Ankunft.

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Berens hat ohnedem Absichten gern etwas in Riga durch uns gedruckt zu

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Journal … Streitschrift
nicht ermittelt
sehen. Wie steht es mit Ihrem
Journal.
Ist meine kleine Streitschrift

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eingekommen. Sie haben an nichts gedacht. Antworten Sie mir den ersten Abend,

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bey Ihrem Pfeifchen, umarmen Sie Ihre Liebste Freundin in meinem

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Namen. Ich habe Mühe diesen Brief zu Ende zu bringen v wollte v könnte noch

S. 91
vieles schreiben. Bald mehr; v denn zugl. an meinen Sahme v Hennings die

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Sie im voraus herzl. von mir grüßen können.

3
oriental.
Manuskript von
George Bassa
In Ansehung des oriental. thuen Sie doch für mich bey meinem Vater

4
einen Vorspruch; daß das
Original
mir mit erster Post zurückgeschickt v die

5
Übersetzung der
Copie
in Holland auf das eiligste besorgt wird. Auch die

6
Ohrgehänge für die Fr. Gräfin. Mit wie viel Kleinigkeiten belästige ich Sie. Ich

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weiß daß Sie zu gut dazu sind mir etwas übel zu nehmen. Noch eins! Mein

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Auszug meiner Antwort
nicht ermittelt
lieber Vater hat einen Auszug meiner Antwort verlangt; ich habe mich

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anders darüber erklärt daß keiner nöthig ist. Im Fall kann mein Bruder sie

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abschreiben, die in ( ) eingeschloßene Erklärung ist aber nur für meinen Vater

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v für niemanden anders. Was machen meine Freunde? Wolson wird Ihnen

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gewiß einmal als
Collega
folgen können. Grüßen Sie alle von mir viel v

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herzlich. Ich umarme Sie mit den Gesinnungen der aufrichtigsten

14
Freundschafft v ersterbe der Ihrige

15
Hamann.

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 2 (6).

Bisherige Drucke

ZH I 87–91, Nr. 35.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
89/35
angehet
]
Geändert nach Druckbogen 1940; ZH:
angeht
90/23
gefallen ihn
]
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955):
lies
gefallen
lassen
ihn

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): gefallen
laßen
ihn